Essen. Unscharfe Zahlen, hohe Dunkelziffern, nutzlose Inzidenzen und unbewegliche Impfquoten verschleiern mehr als sie offenlegen. Das Rathaus reagiert.

Ein Blick aufs Cockpit, und die Lage schien klar: Ob Infizierte oder Impfquoten, Inzidenzen oder Intensiv-Fälle – die Internetseite der Stadt lieferte Tag für Tag jenen Corona-Stoff, aus dem sich hitzige Diskussionen am Frühstückstisch speisen. Doch von Monat zu Monat, von Virus-Variante zu Virus-Variante, von Impfung zu Impfung wurde der Blick immer unschärfer. Bis auf die letzte Person ausgezählte Werte spiegeln inzwischen eine Präzision wider, die es so nicht gibt. Nun reagiert die Stadt – und blendet das Corona-Cockpit aus.

Auch unsere Statistik kommt auf den Prüfstand

Auch die Berichterstattung in NRZ und WAZ lebt von jenen Zahlen, welche die Stadt Essen und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein zuliefern.

Auch wir werden also vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung unsere tägliche Corona-Statistik auf den Prüfstand stellen und voraussichtlich verringern.

Und doch gilt auch für uns: Wenn die Lage es erfordert und die Zahlen dies hergeben, nehmen wir die tägliche Aktualisierung umgehend wieder in die Berichterstattung auf.

Nicht dass da im Gesundheitsamt nicht mehr Buch geführt, nicht dass da die städtische Impfkampagne gänzlich eingemottet würde. Doch nach und nach schleicht man sich im Rathaus aus einer Alarmstimmung, die bekanntlich nur dann die gewünschte Aufmerksamkeit erfährt, wenn man sich in ruhigeren Zeiten auch traut, zur Tagesordnung überzugehen.

Warum zählen? Der Staat hat einiges an Verantwortung an die Bürger weitergereicht

Den ersten Schritt dazu unternahm die Stadt vor gut fünf Wochen, als sie beschloss, für den 72-jährigen Mann, der da „an oder in Verbindung mit einer Corona-Erkrankung verstorben“ war, zum letzten Mal eine gesonderte Pressemeldung zu veröffentlichen. An diesem Freitag (6. Mai) soll nun auch die Symbolleiste mit den Corona-Piktogrammen verschwinden, aus guten Gründen.

Beispiel Infizierte: Mit der Omikron-Variante hat Corona für viele ganz offensichtlich nicht nur den früheren Schrecken verloren – angesichts der Erkrankungswelle reagierte auch der Staat und reichte die Pflicht zu einem verantwortungsvollen Umgang an die Bürgerinnen und Bürger weiter. Zuletzt mit der seit Donnerstag gültigen Corona-Schutzverordnung, die ein früheres Freitesten ermöglicht und die automatische Quarantäne für Kontaktpersonen von Infizierten abschafft. Wo aber Arbeitgeber keinen PCR-Test mehr brauchen und das stille Abtauchen in die selbstgewählte Isolation abseits des Zahlenwerks nur die Dunkelziffer erhöht, machen Infizierten-Zahlen keinen Sinn mehr.

Beispiel Inzidenz: Gerade mal ein Jahr ist es her, da führte eine Sieben-Tage-Inzidenz – also die Zahl der binnen einer Woche gemeldeten Infektionen je 100.000 Einwohner – zu nächtlichen Ausgangssperren. Für den Schwellenwert von 150 blieb dem Einzelhandel ein Minimalgeschäft namens „Click & Meet“, und in Schulen wie Kitas gingen bei 165 die Alarmlampen an. Der ausgehende Winter 2021/22 bescherte auch Essen Inzidenzen in zehnfacher Höhe, aber egal wie hoch – sie lösen keine neuen, schärferen Maßnahmen mehr aus.

Beispiel Impfquote: Als der Impfstoff keine Mangelware mehr war und die „Ärmel hoch“-Kampagne verfing, da kletterten die Zehntelwerte der Impfquoten nahezu täglich in die Höhe. Vorbei. Wer sich wirklich impfen lassen wollte, hat das, so scheint es, längst hinter sich gebracht. Die Stadt dampfte deshalb ihre zeitweise geöffneten Impfstationen aufs Nötigste ein, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein aktualisiert ihre Statistik ohnehin nur noch einmal pro Woche, und die Impfquote täglich zu beobachten, ist so spannend, wie frischer Farbe beim Trocknen zuzusehen: Damit die Quote an Erstimpfungen (derzeit 79,3 Prozent) um gerade mal 0,1 Prozentpunkte steigt, sind stadtweit 582 Impfungen erforderlich – dafür brauchte es zuletzt mehr als vier Wochen.

Zur Hochphase des Impfzentrums in der Essener Messehalle 4 kletterte die Impfquote nahezu täglich höher. Jetzt scheint eine Sättigungsgrenze erreicht.
Zur Hochphase des Impfzentrums in der Essener Messehalle 4 kletterte die Impfquote nahezu täglich höher. Jetzt scheint eine Sättigungsgrenze erreicht. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Eher Näherungswerte als von jener Genauigkeit, die da zur Schau gestellt wurde

Hinzu kam schon immer eine zahlenmäßige Unschärfe, weil die Statistik den Impf- und nicht den Wohnort der immunisierten Personen berücksichtigte. Wann immer also etwa im Impfzentrum an der Messe Sonderaktionen stattfanden, schnellte die hiesige Impfquote hoch, obwohl sich auch viele aus Velbert oder Oberhausen, Bochum oder Mülheim ihren Pieks abholten.

Da dies immer wieder auch umgekehrt stattgefunden haben dürfte, nahm man solche statistischen Macken hin und unterstellte, dass sich dies gegenseitig aufhebt. Für deutlich mehr Verzerrungen sorgten später die betriebsärztlichen Impfaktionen in großen Unternehmen, die teils gar nicht in die Statistik einflossen. Das Zahlenwerk: am Ende wohl eher ein Näherungswert als von jener Genauigkeit, die da zur Schau gestellt wurde. Dies umso mehr, als in den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 zusammen insgesamt 59.600 Menschen nach Essen zuzogen – und etwa 58.400 fort. Was soll da eine in Stadtgrenzen gepflegte Statistik?

Es bleiben Informationen in abgespeckter Form, nur das Plakative verschwindet

Und doch will die Stadt die Corona-Informationen nicht versiegen lassen: „In abgespeckter Form werden wir das weiterverfolgen“, sagt Stadt-Sprecherin Silke Lenz, als Anhaltspunkt auch für interessierte Bürgerinnen und Bürger. Der Corona-Ticker wird ebenso gepflegt wie die monatliche Statistik, und selbstredend würden auch Impfaktionen weiter angekündigt. Nur das Plakative verschwindet.

Und die Maskenpflicht in städtischen Gebäuden? Die voraussichtlich auch, wenn am 25. Mai jene Arbeitsschutzverordnung ausläuft, an die sie gekoppelt ist. Alles ohne Gewähr, betont Silke Lenz. Kann sein, dass OB und Verwaltungsvorstand früher eingreifen, kann sein, dass das alte Corona-Cockpit wieder blinkt, wenn im Herbst womöglich eine neue Welle dräut. Denn wenn auch oft eher schlecht als recht – die Statistik folgt dem Virus.

Nicht umgekehrt.