Essen. Otto Hue zählte zu den einflussreichsten Gewerkschaftern und SPD-Politikern im Ruhrgebiet. Sein Todestag jährt sich zum 100. Mal. Ein Porträt.
Er stieg in seinem nicht sehr langen Leben auf zu einem der einflussreichsten Gewerkschafter und Sozialdemokraten des Ruhrgebiets in Kaiserreich und früher Weimarer Republik: Otto Hue (1868-1922), dessen Todestag sich am Ostermontag (18. April) zum 100. Mal jährt. Nach dem Mann, den der Historiker Hans Mommsen zum „ungekrönten König der deutschen Bergleute“ erhoben hat, sind in Essen und anderen Städten des Reviers zahlreiche Straßen und Plätze benannt. Ein Seniorenheim der Awo in Essen-Holsterhausen trägt ebenso seinen Namen.
Arbeiterzeitung schreibt 1922: „Eine solche Beerdigung sah Essen noch nie“
„Eine solche Beerdigung sah Essen noch nie, auch nicht, als der letzte männliche Vertreter der Brotherrendynastie Krupp das Zeitliche segnete“, schrieb die Arbeiter-Zeitung am 24. April 1922.
Bei den Beisetzungsfeierlichkeiten sollen mindestens 70.000 dem Arbeiterführer das letzte Geleit gegeben haben. Noch ein Zitat aus der Arbeiterzeitung in dem damals üblichen, überschwänglichen Tonfall: „So groß ist das Heer der klassenbewußten Arbeiter, so groß die Liebe und Verehrung für einen ihrer Besten, daß die Straßen Essens nicht groß genug sind, sie in einem normalen Trauerzug zu fassen.“
Fast 30 Jahre bis zu seinem Tod lebte Otto Hue in Essen, zuletzt in der Kurtstraße 61 in Rüttenscheid, die heute Florastraße heißt: mit seiner Frau Elisabeth und den Kindern Elisabeth, Karl, Fritz und Mieze.
Das Licht der Welt hatte er drei Jahre vor der Reichsgründung in Dortmund-Hörde erblickt: übrigens mit dem Taufnamen Konrad. Warum sein Vorname später geändert wurde, ist bis heute ungeklärt geblieben. Der frühe Tod seines Vaters – Otto Hue war erst sechs – sollte die Familie in bittere Not stürzen.
„Heiße Sehnsucht, sich aus ärmlichen und bedrückten Verhältnissen emporzuführen“
Wohl am prägendsten war für den wissbegierigen Knaben die Mutter, die größten Wert auf eine gute Schulbildung legte. Ein Hörder Stadtchronist schrieb über Otto Hues Wesen: „Heiße Sehnsucht, sich und seine Standesgenossen aus ärmlichen und bedrückten Verhältnissen emporzuführen und klare Erkenntnis, daß ernstes und rastloses Bildungsstreben die Vorbedingung dazu sei.“
Als Hue nach der Schlosserlehre 1893 nach Essen kam, war er bereits Mitglied der SPD. Nur wenige Jahre zuvor hatte Otto von Bismarck die immer stärker werdende Opposition mit Hilfe des Sozialistengesetzes erledigen wollen.
Zwar fand Hue eine Anstellung bei der Kruppschen Gussstahlfabrik, ein Kruppianer wurde er trotzdem nicht. Denn er hatte unter falschem Namen für die Sozialdemokratie agitiert, was dem Unternehmen nicht verborgen geblieben war. Die Kruppschen Patriarchen duldeten keine Sozis in ihrem „Verband“ und Otto Hue kam seiner Entlassung zuvor, indem er von sich aus kündigte.
„Dem Unternehmen blieb Hue sein Leben lang in tiefer Abneigung verbunden“, urteilt Klaus Wisotzky, Historiker und ehemaliger Leiter des Hauses der Essener Geschichte, der sich intensiv mit dem Leben und Wirken Otto Hues befasst hat. Die bislang fehlende wissenschaftliche Biografie will er im nächsten Jahr vorlegen, sein Band wird mehr als 400 Seiten umfassen.
Mit einer Körpergröße von 1,94 Meter war Hue eine stattliche Erscheinung. Der Bergbauexperte, der nie unter Tage gearbeitet hat, stieg in Essen rasch auf zu einem der führenden Köpfe der deutschen Knappenbewegung. Die politische Polizei charakterisierte ihn in ihren Dossiers als „eigentlichen Führer der Essener Sozialdemokratie“. 1903 wurde er für die SPD in den Reichstag und später in den preußischen Landtag gewählt.
Redakteur der Bergarbeiter-Zeitung und „meistgehasster Mann des Zechenverbandes“
Große Wirkung entfaltete er sowohl als Abgeordneter als auch 1895 als Redakteur der Bergarbeiter-Zeitung. Er prangerte leidenschaftlich die Missstände auf den Bergwerken an und wurde der „meistgehasste Mann des Zechenverbandes“.
Wisotzky zeichnet das Bild eines belesenen, redegewandten und enorm gebildeten Arbeiterfunktionärs, der zugleich Literaturliebhaber war. Ehrgeiz und Fleiß, Disziplin und Selbstvertrauen verhalfen ihm zu Spitzenpositionen im Bergarbeiterverband („Alter Verband“), dem Vorgänger der heutigen Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie. Aber der Historiker erinnert auch daran, dass er in seiner Rastlosigkeit ständig Raubbau mit seinen Kräften betrieb und schon 1909 fast am Ende seiner Kräfte war.
Verstörend wirkt Otto Hues fast bürgerlich-überheblicher Blick etwa auf die Bergarbeiter in Oberschlesien. Denn er mokierte sich über „Unkultur, Rohheit und Unbildung“, über „moralische und körperliche Versumpfung“. Abfällig äußerte er sich über die „thierähnlich dahinvegetirten“, „die so arm, so elend sind, daß ihnen aller Sinn für das Schöne und Gefällige abhanden geht“. An anderer Stelle äußerte er seine Sorge vor einer „Russifizirung und Polonisirung des Ruhrbeckens“. Die Zuwanderung aus dem Osten hatte auch ein politisch brisante Dimension. Denn Hue war nach Wisotzkys Darstellung der festen Überzeugung, dass die Bergwerksgesellschaften diese Arbeiter ins Revier geholt hätten, „um ständig eine Reserve von Lohndrückern zu haben“.
Recherchen in alten Zeitungsbänden und polizeilichen Überwachungsberichten
Hues Wirken fällt in die die Zeit erbitterter Richtungskämpfe, auch innerhalb des eigenen Lagers. Er lag mit den christlichen Gewerkschaften und dem Zentrum ebenso im Clinch wie mit sozialistischen Revolutions- und Klassenkampf-Theoretikern. Den eigenen Genossen in Essen galt er als Rechtsaußen. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war er Patriot, also für Burgfrieden und Kriegskredite, den Versailler Vertrag von 1919 geißelte er als „Sklavenkontrakt“.
Derselbe, der im Kaiserreich noch die Verstaatlichung des Bergbaus herbeigesehnt hatte, wollte sie nach der Novemberrevolution 1919 aus Sorge vor politischem und wirtschaftlichem Chaos von der Tagesordnung setzen und auf stabilere Verhältnisse mit klaren parlamentarischen Mehrheit warten.
Redakteur und Buchautor
Otto Hue veröffentlichte nicht nur Berichte in der Bergarbeiter-Zeitung, er verschaffte sich auch als Buchautor Anerkennung.
Zu seinen bekanntesten Werken zählt die zweibändige Abhandlung „Die Bergarbeiter – Historische Darstellung der Bergarbeiter-Verhältnisse von der Ältesten bis in die Neueste Zeit.“
Die erste Arbeit über das Wirken Otto Hues („Ein Lebensbild für seine Freunde“) erschien bereits in seinem Todesjahr 1922, herausgegeben vom Vorstand des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands. Autor war Nikolaus Osterroth
Wisotzky hat jahrelang über Otto Hues Leben und Wirken geforscht. Es war eine mühselige Arbeit, denn Korrespondenzen oder gar einen persönlichen Nachlass gibt es – von wenigen Schriftstücken abgesehen – nicht. Der Historiker musste deshalb alte Zeitungsbände durchstöbern und polizeiliche Überwachungsberichte auswerten, um ein möglichst objektives Urteil fällen zu können.
Sein Urteil über Otto Hue fällt ausgesprochen wohlwollend aus: „Wir können ihn als aufrechten Demokraten würdigen und in Erinnerung behalten, nach dem zu Recht Straßen, Plätze und Heime wie in Essen benannt sind.“