Essen. Weniger Geburten, mehr Todesfälle – auch Zuwanderung glich das Missverhältnis zuletzt nicht mehr aus. Der Ukraine-Krieg beschert nun die Wende.
Alles fließt – nirgends sonst passt der Sinnspruch so treffend wie in der städtischen Bevölkerungs-Statistik: Dort herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Kinder werden geboren, Menschen sterben, es gibt Zuzüge in und Fortzüge aus der Stadt und beim Blick auf das vergangene Jahr erstmals seit langem wieder die zahlenmäßig belegbare Nachricht: Essen schrumpft. Kaum liegt diese Erkenntnis auf dem Tisch, scheint sie schon wieder überholt, denn der Krieg in der Ukraine bringt einen Zuwandererschub. Und was für einen.
Das Ausmaß zeigt schon ein kurzer Blick auf das Zahlenwerk, das fürs vergangene Jahr 2021 zunächst stadtweit 5805 Geburten notiert – und 7782 Todesfälle. Unterm Strich steht damit ein „Sterbefall-Überschuss“ von 1977 Personen, der höchste der vergangenen drei Jahre.
Jüngster Asyl-Zugang: das Dorint-Hotel in Rüttenscheid
Auf der Suche nach schnell verfügbaren Unterkünften für ukrainische Flüchtlinge ist die Stadt in Rüttenscheid fündig geworden: Ab Juni können im Dorint-Hotel an der Müller-Breslau-Straße bis zu 200 Plätze bereitgestellt werden.Die Idee für eine Unterbringung dort reklamieren die Freien Demokraten für sich – bemüht, die Nutzung von Turnhallen im Stadtgebiet als Asyl auf Zeit zu verhindern.Den größten Teil der Unterbringung schultern laut Stadt nach wie vor Privatleute: Von den 4351 Menschen aus der Ukraine, die bis dato erfasst wurden, kommen nicht weniger als 3028 bei Freunden und Verwandten unter – ein Anteil von 70 Prozent.Nur 580 Personen sind in städtischen Notunterkünften untergebracht, 618 in Einrichtungen des Landes und 125 kurzzeitig in Hotels. Am Freitag (8. April) standen der Stadt 258 freie Asylplätze zur Verfügung.
Rund 40 Prozent der Neu-Essener Bürger haben nur die deutsche Staatsangehörigkeit
Aufgefüllt wurde die Lücke zuletzt stets im Zuge der sogenannten „Wanderungsbewegungen“, was nicht unbedingt mit ausländischer Zuwanderung verwechselt werden sollte, denn rund 40 Prozent der Neu-Essener Bürgerinnen und Bürger haben ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit. Bei den Zu- wie bei den Fortzügen bewegen sich die Werte Jahr für Jahr jeweils um die 30.000er Marke, im vergangenen Jahr sogar darüber.
2021 registrierten die städtischen Statistiker 30.615 Zuzüge in die Stadt, denen allerdings 31.188 Wegzüge gegenüberstanden. Wo also in den Vorjahren der „Sterbefall-Überschuss“ noch mehr oder weniger gut ausgeglichen wurde, wuchs die Lücke diesmal sogar um 573 Menschen auf 2550. So steht es in einer Auswertung der Stadt über die „Bevölkerungsbewegungen 2019 bis 2021“.
Nach sechs Wochen Krieg schon mehr als 4300 Flüchtlinge aus der Ukraine
Doch gerade mal sechs Wochen Krieg in der Ukraine und die darauf folgende Flüchtlingswelle aus dem östlichsten europäischen Nachbarland haben jetzt ausgereicht, um den Schrumpf-Prozess in Essen in sein Gegenteil zu verkehren.
So waren an diesem Freitag (8. April) insgesamt 4351 hilfesuchende Menschen aus der Ukraine in Essen erfasst. Das sind, nur zum Vergleich, schon jetzt fast 1800 mehr als im gesamten vergangenen Jahr aus Syrien kamen, jenem Land, das in der hiesigen Zuzugsstatistik bislang auf dem ersten Platz stand. Und wenn auch die aktuelle Flüchtlingswelle ein wenig abgeebbt scheint, dass die Zahlen erst einmal weiter steigen ist absehbar.
„Die Menschen aus der Ukraine sagen einfach alle, sie wollen irgendwann wieder zurück“
Schon deshalb, weil die Stadt bei der landesweiten Verteilung der Geflüchteten nach dem Flüchtlingsaufnahme-Gesetz mit ihrer Quote inzwischen spürbar unter 100 Prozent gerutscht ist. Um das Soll zu erfüllen, müsste sie je nach Entwicklung in den kommenden Tagen bis zu 246 Personen aufnehmen.
Wie lange dieser Trend anhält, der Essen übrigens allein 1630 Kinder und Jugendliche beschert hat, ist offen. Wie lange die Flüchtlinge bleiben, auch. „Egal wo wir fragen“, sagt Stadt-Sprecherin Silke Lenz, „die Menschen aus der Ukraine sagen einfach alle, sie wollen irgendwann wieder zurück“. Schließlich haben viele ihre Lebenspartner und die Familie in der Heimat lassen müssen. Andererseits ist offen, ob die Sehnsucht nach einer Rückkehr rein rationalen Überlegungen standhält. Denn viele haben nichts mehr, das Zuhause ist zerstört, ein Neuanfang müsste dort aus dem Nichts erfolgen.
Viele dürften ihre Zukunftspläne wohl an ihren Job-Chancen ausrichten
Bei der Stadt vermutet man deshalb, dass viele ihre Zukunftspläne nicht zuletzt an der Frage ausrichten, welche Job-Chancen sie hierzulande haben. Und die ersten Neuankömmlinge beginnen, sich innerhalb des Reviers zusammenzufinden, Familien ziehen zueinander, und wer weiß, vielleicht trauen sich irgendwann die ersten zumindest wieder in den Westen der Ukraine zurück.
Noch gibt es dafür keine Belege, aber alles fließt, und die Statistik wird früher oder später zeigen, wohin.