Essen. Von der Flüchtlingshilfe zum Handelserfolg: Thomas Schiemann ist in der Ukraine gut im Geschäft – und bemüht, die Kriegssorgen im Zaum zu halten.

Er war zwölf Jahre lang Präsident der Essener Moskitos, auf dünnem Eis kennt Thomas Schiemann sich also aus. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass der 65-Jährige diesen Samstag seinen Koffer für Kiew packt – obwohl der Kanzler im Fernsehen doch öffentlich einen Krieg in der Ukraine fürchtet. Während die Deutsche Botschaft den dort lebenden Landsleuten empfiehlt, eine Ausreise zu erwägen, während das Auswärtige Amt ausdrücklich vor Reisen in die Ukraine warnt, buchte Schiemann die Flugtickets: Sonntag um elf geht es für ihn von Düsseldorf über Frankfurt nach Kiew. Wahnsinn? Nein: Wirtschaft.

Kann, wer in diesen Tagen das weltweite Säbelrasseln um die Ukraine vernimmt und so viel von Krieg und Krise hört, an Käse denken? Schiemann kann, denn es ist sein Job: Mit seiner Firma J.M. Wirtschaftsberatungs- und Handels GmbH ist der langjährige Manager von Molkerei-Firmen wie Onken und Emmi nach eigenen Angaben neben Butter, Marzipan und Desserts inzwischen größter Käse-Exporteur aus der Europäischen Union.

Einmal im Monat nach Kiew

Um seine ukrainischen Geschäftskontakte zu pflegen, reist Thomas Schiemann einmal im Monat ins Land und hat dort inzwischen auch ein eigenes Büro gegründet.

Die Ukraine ist der größte Staat, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen. Er zählt knapp 42 Millionen Einwohner und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unabhängig.

Eine uneigennützige Hilfsaktion für Flüchtlinge machte den Anfang

Und wenn sie in Kiew oder Dnipropetrowsk, Charkow oder Saporischschja ihr Brotscheiben mit hiesiger Butter und Exquisa-Frischkäse bestreichen, eine Müller Milch mit Schokogeschmack trinken oder Zentis-Marmelade auf den Frühstückstisch stellen, dann hat Schiemann dran gedreht: Täglich schickt er fünf, sechs, sieben Lastwagen mit Frischware auf die Reise, 9000 Tonnen im Jahr, in diesem Jahr will er damit 37 Millionen Euro Umsatz machen, Tendenz weiter deutlich steigend.

Ein Erfolg, der ausgerechnet in den (Bürger-)Kriegswirren des Jahres 2014 gründet: Angesichts des Flüchtlings-Elends, das er bei einem Besuch in Charkow erlebte, der ukrainischen Heimat seiner Frau Liudmyla, hatte Schiemann damals eine großangelegte Hilfsaktion gestartet. Für die abertausenden Menschen aus den bis heute umkämpften Regionen Donezk und Luhansk organisierte er dabei allerlei Hilfsgüter, Reis und Nudeln, Babywindeln und Kinderbetten, sogar XXL-Tampons zur Erstversorgung bei Schusswunden. Diese uneigennützige Hilfe, die er im fernen Essen auf die Beine stellte, dankten ihm nicht nur die notleidenden Menschen und anschließend die lokalen Medien, sondern auch örtliche Supermarkt-Ketten.

Schiemanns Erfolgsgeheimnis: „Sie müssen die Menschen gewinnen“

Mit denen kam Schiemann erst in Kontakt und später ins Geschäft, wofür der Dellwiger Kaufmann eine simple Erklärung parat hat: „Um Erfolg zu haben, ist dort nicht in erster Linie das Produkt entscheidend. Sie müssen die Menschen gewinnen.“ Das gelingt ihm seither mal im Alleingang, mal mit Ehefrau Liudmyla an seiner Seite, die nicht nur die ukrainische Sprache, sondern auch die ukrainische Seele kennt – und den ukrainischen Geschmack, wenn Schiemann mal wieder ein neues Produkt lancieren will: „Sie hat da einen anderen Zugang.“

Für seine Hilfsaktion zugunsten ukrainischer Flüchtlinge fand Thomas Schiemann (rechts im Bild) im Winter 2014 viele freiwillige Helferinnen und Helfer.
Für seine Hilfsaktion zugunsten ukrainischer Flüchtlinge fand Thomas Schiemann (rechts im Bild) im Winter 2014 viele freiwillige Helferinnen und Helfer. © FFS | Fabian Strauch

Das Geschäft über 1800 Kilometer hinweg war immer schon ein Wagnis für alle Seiten, für Schiemann auch deshalb, weil Kreditversicherer seine Exporte in die Ukraine nicht absichern, da im Osten des großen Landes immer noch Kriegszustand herrscht. Er finanziert also vor – und muss seinen Partnern hierzulande „immer zuerst die Ukraine als Land verkaufen: dass es ein sicheres Land ist, dass man sein Geld bekommt“.

Vorwürfe vom Ex-Kanzler: „Ich habe mich noch nie so geschämt“

So gesehen hatten Käse und Joghurt und was er sonst noch dort hinschafft, immer schon auch eine politische Note. Und überhaupt alles, was die Deutschen mit dem Land verbindet: Vom Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko, der als Sympathieträger und ehrliche Haut gilt, bis zur Gas-Pipeline Nord Stream 2 „die man uns sehr übel nimmt“, von den umstrittenen Aussagen Ex-Kanzler Schröders („Ich habe mich noch nie so geschämt“, sagt der einstige Sozialdemokrat Thomas Schiemann) bis zu den 5000 gespendeten Helmen aus Deutschland, eine Geste, die er „nur peinlich“ findet.

Aber er merkt den Aufschwung im Land: Der Wohlstand wächst und mit ihm das Gefälle gegenüber Russland, die Presse agiert frei, es wächst das Nationalgefühl und der Wunsch jetzt nicht stehenzubleiben. Und wenn Schiemann das sagt, schwingt ein Gutteil Stolz mit, das er seinen Beitrag dazu leisten kann.

Eine ansteckende Ruhe gegen die sprichwörtliche „German Angst“

Soll man sagen: noch? Es ist nicht so, dass ihn das Krisen- und Kriegsgerede kalt lässt, aber ein bisschen lässt sich Thomas Schiemann von der Ruhe der Menschen vor Ort anstecken. Seine Mitarbeiter vor Ort, die Agenturen und Importeure, sie alle sind entspannt er als die Bidens, Macrons und Scholzens dieser Welt. Sein größter Kunde meint, dass sowas wie die sprichwörtliche „German Angst“ umgeht. Und hat nicht die Deutsche Botschaft, die eben noch die Ausreise nahelegte, am Dienstag noch eine Veranstaltung zur Nachhaltigkeit in der Agrarproduktion durchgezogen?

Doch tief drinnen weiß er auch, dass ein großangelegter Einmarsch „ein schreckliches Gemetzel“ entfachen und alles zunichte machen könnte: „Natürlich denkt man über sowas nach.“ An die Familie seiner Frau, an die Menschen, die ihm ans Herz gewachsen sind, an sein Geschäft, das wohl im Eimer wäre. Schiemann zuckt mit den Achseln, ihm fällt gerade nichts anderes ein, als dass dies „natürlich Pech wäre“. Ein kurzer Seufzer. „Ich weiß, dass sich das komisch anhört“.

Seine Zuversicht will er sich dennoch nicht nehmen lassen, will weiter daran glauben, „dass der Super-GAU schon nicht kommt“, nicht in den vier Tagen, die er ab Sonntag in Kiew verbringt, und auch nicht danach. Wird schon alles gut ausgehen, so wie der Marktstart seiner erste eigenen Frischkäse-Marke, die er „Feel the Cheese“ genannt hat: „Fühl den Käse“.

Die Krise und den Käse fühlen: Der Mann hat Nerven.