Essen. Der 26-jährige Kanadier Jan Lisiecki hat in Essen einen Klavierabend dargeboten – ausschließlich Etüden und Nocturnes – wer wagt das schon?
Schon möglich, dass Jan Lisiecki durch seine polnischen Familienwurzeln eine besondere künstlerische Affinität zur Musik von Frédéric Chopin hat. Auf jeden Fall gilt der 26-jährige Kanadier längst als einer der führenden Interpreten des großen Klavierkomponisten. In Essen hat er jetzt mit einem denkbar eng gezirkelten Programm für Jubel gesorgt. Einen ganzen Abend lang ausschließlich Etüden und Nocturnes – wer wagt das schon?
Beide Gattungen hat er auf CD eingespielt, in seinem Solo-Recital verknüpfte er sie nun noch enger, indem er sie nach Tonarten disponiert ineinander verschränkte: die zwölf Etüden op. 10 und elf der 21 Nocturnes. Was für ein expressives Universum, welche extremen Kontraste – auch innerhalb eines Stückes – hat Lisiecki da offengelegt!
Jan Lisiecki: Donnernde Gravitation und Schwerelosigkeit im Pianissimo ergänzen sich
Gleich die Eröffnung zeigte, wohin die spannende Reise gehen sollte. Der furiosen, gewaltigen C-Dur-Etüde op. 10,1 mit melodisch herausgemeißelter Basslinie und funkelnd-rauschenden Akkordwogen setzte er die introvertierte, erzählerische Nocturne in c-Moll, KK IVb Nr. 8 entgegen. Keine Effekthascherei, nichts Parfümiertes oder subjektiv Überformendes eignet seiner Rubatokunst und der inneren Dynamik seines Spiels, das ihn immer wieder vom Klavierschemel abheben lässt.
Donnernde Gravitation und Schwerelosigkeit im Pianissimo ergänzen sich: Auf den Flügeln des Gesangs weiß er die melodische Phrase sensibel und liebevoll auszuformen und dank seiner Anschlagskultur in erlesene Farben zu tauchen, um dann mit salonhafter Bravour etwa in der Etüde op. 10,10 den schillernden Franz Liszt vorwegzunehmen. Und wenn er der E-Dur-Etüde in betörender Schlichtheit das wahre Wunder des Melos entlockte, durfte man getrost die populäre Verwurstung zum sentimentalen „In mir klingt ein Lied“ eines Rudolf Schock vergessen.