Essen. Selbst auf der teuren Rüttenscheider Straße gibt es noch Grundstücke, auf der kriegsbedingt, Provisorien stehen. Warum Neubauten schwierig sind.

Ein Haus, das nur aus einem Erdgeschoss besteht – das wirkt etwas skurril mitten in Rüttenscheid, wo Baugrundstücke knapp und teuer sind und man lieber höher als niedriger baut. Tatsächlich handelt es sich bei dem Haus Rüttenscheider Straße 128 um den Rest eines im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäudes, das im Gegensatz zu vielen anderen nie wieder auferstand. Nun aber scheint sich dort und auch im Nachbarhaus Nummer 126, das nach dem Krieg immerhin zwei Obergeschosse behielt, etwas zu tun. Dem Vernehmen nach soll an dieser zentralen Stelle zwischen Martinstraße und der Rüttenscheider Brücke in den nächsten ein bis zwei Jahren neu gebaut werden, was sich allerdings nicht ganz einfach gestaltet.

Vorgabe der Stadt zur Veränderung der Straßenflucht erschwert Neubauten

Grund ist eine noch aus der Nachkriegszeit stammende Vorgabe der Stadt, die festlegt, dass bei Neubauten in diesem Bereich der Rüttenscheider Straße die Vorderkante des Hauses einige Meter zurückversetzt werden muss. So ist wohl auch zu erklären, dass hier so lange nicht gebaut wurde. Der aktuelle Eigentümer der beiden Häuser – die Firma Glückauf-Immobilien – sieht das naturgemäß kritisch, weil sich das Grundstück dann faktisch um einiges verkleinern würde. Derzeit sollen noch Abstimmungsgespräche mit der Stadtverwaltung laufen, um zu klären, unter welchen Bedingungen schlussendlich gebaut werden kann. Konkrete Bauanträge gibt es laut Stadtsprecherin Jacqueline Schröder daher noch nicht.

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Warum wurde diese Vorgabe erlassen? Die Stadtplaner hofften, das Profil der Rüttenscheider Straße, das ihnen zu eng erschien, zu verbreitern und so einen großzügigeren Straßenzuschnitt zu erreichen. In der Nachkriegszeit galt in Essen oft das Aufbrechen und die Modernisierung alter Stadtstrukturen als Richtschnur, nicht der Erhalt. Da man davon ausging, dass nach und nach auch die vom Bombenkrieg verschonten Altbauten weichen würden, hoffte man, bald wieder ein einheitliches Bild auf der Rü zu erzielen.

Als Problem gilt die „unordentliche“ Rü schon lange nicht mehr

Doch es kam anders. Bis heute ist das Bild in diesem Teil der Rü uneinheitlich geblieben, eine Mischung aus Nachkriegshäusern, die zurückspringen, und Altbauten, die noch in der alten, um 1900 festgelegten Straßenflucht stehen und dort wohl auch noch sehr lange bleiben werden. Als Problem empfindet das aber niemand mehr. Somit würde kein großer Schaden entstehen, wenn die Neubauten auf den alten Grundstücken entständen, zumal es auch kein städtebauliches Ziel mehr ist, Straßenquerschnitte autogerecht möglichst breit zu gestalten.

Denkbar wäre aber auch ein Kompromiss, etwa dergestalt, dass nur das Erdgeschoss zurückversetzt wird, alle anderen Etagen aber weiter in den Straßenraum ragen dürfen. Rolf Krane, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR), verweist auf einige Beispiele in Rüttenscheid, wo mit diesem architektonischen Trick sowohl die Investoren als auch die Stadtplaner zufriedengestellt wurden, etwa im Büro- und Gewerbekomplex Rü 199. „Besser als die gegenwärtige Situation ist das allemal“, sagt Krane. Es geht aber auch einfacher: Erst vor einigen Jahren wurde nur rund hundert Meter Richtung Süden auf dem Grundstück Rü Nummer 140 eine Baulücke der Firma Reifen Fricke bebaut – „komplett in der alten Fassadenflucht“, betont Krane.

Kriegsbedingte Baulücken und schwach genutzte Grundstücke gibt es noch einige

Von solchen, nun fast 80 Jahre alten Lücken gibt es mehr, als man denkt. Der IGR-Chef kennt im Stadtteil mehrere Häuser, die nur notdürftig nach ihrer Zerstörung wieder aufgebaut wurde. Ein markantes Beispiel ist das Haus an der Ecke Rüttenscheider/Christophstraße, in dem lange eine Aldi-Filiale war und nun ein Bio-Supermarkt ist. „Das Haus ist mit einer Verblendung versehen, hinter der sich aber keine Stockwerke befinden“, so Krane. Es gibt bis heute nur ein Erdgeschoss.

Am 11. März 1945 ging das alte Rüttenscheid unter

Rüttenscheid und überhaupt die südlicheren Stadtteile gehörten nicht zu den ersten Zielen der alliierten Bomber im Zweiten Weltkrieg. Das waren vielmehr der Stadtkern und die Viertel rund um die Krupp-Fabriken, selbstverständlich auch die Fabriken selbst.

Doch mit Fortdauer des Zweiten Weltkriegs änderte sich das, auch die industrieferneren Stadtteile mit ihren Bewohnern war jetzt stärker Ziel der Vernichtung. Bis kurz vor Kriegsende waren Rüttenscheid und auch das Südviertel noch relativ intakt, doch am 11. März 1945 gab es einen der härtesten Angriffe des gesamten Krieges auf eine einzelne Stadt.

Rund 1000 Bomber warfen 8000 schwere Sprengbomben auf Essen ab. Sie zerstörten das Südviertel rund um Huyssenallee und Kronprinzenstraße beinahe komplett, und auch der Rüttenscheider Norden erlitt flächendeckend schwerste Schäden. Es starben fast 900 Menschen.

Manchen Hausbesitzern genüge die damit verbundene Mieteinnahme, zumal ein Neubau mit teuren Pflichten verbunden wäre, etwa der Schaffung von Parkraum. „Bei existierendem Erdgeschoss ist ein Neubau nicht unbedingt wirtschaftlicher“, weiß Krane. Wenn man solche Lücken füllen wolle, müsse man gesetzliche Vorgaben ändern.

Bei der Stadt läuft ein Projekt, Baulücken stadtweit aufzuspüren

Zurzeit läuft stadtweit in der Planungsverwaltung ein Projekt, das Baulücken dieser Art aufspürt, um die Eigentümer anschließend zu motivieren, mehr aus ihren Grundstücken zu machen. Hintergrund ist das politische Ziel, durch die Aktivierung schlecht oder gar nicht genutzter Grundstücke einen Beitrag zur Behebung der Wohnungsknappheit zu leisten. Neben echten Baulücken ohne jede Bebauung passen auch notdürftig geflickte Kriegsruinen wie die Rü 126 und 128 in dieses Programm.

Unterdessen hat sich der Friseur „Schnittstelle“, bisher ansässig an der Rüttenscheider Straße 126, schon einen neuen Standort gesucht. „Noch findet Ihr die Schnittstelle an der Rüttenscheider Straße 126 - doch wir ziehen um!“, heißt es auf der Website. „Am Dienstag, 15. Februar 2022, eröffnen wir die völlig neue ‚Schnittstelle‘ an der Gummertstraße 2., Ecke Rüttenscheider Straße.“ Das alte Ladenlokal soll aber laut Anzeigen in Immobilienportalen durchaus noch einmal neu vermietet werden. Allerdings nur bis zum Abriss in ein bis zwei Jahren.