Essen. Treppenstufen, hohe Bordsteine, fehlende Aufzüge: In der Essener Innenstadt gibt es noch viele Barrieren. Wie Betroffene sie erleben.
Auf eine Shoppingtour oder einen Kaffee in die Essener Innenstadt fahren – spontan ist das für Gülay Acar nicht möglich. Ein solcher Ausflug muss für die Rollstuhlfahrerin gut durchdacht sein, denn längst nicht alle Gebäude und Wege sind barrierefrei. Die Essenerin zeigt, welche teils unüberwindbaren Hürden ihr dort begegnen, die Menschen ohne Behinderung oft gar nicht auffallen.
Los geht es mit der Anfahrt – heute kommt Gülay Acar mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus dem Essener Westen in die Innenstadt. Erstes Problem: Die Rampe der Straßenbahn fährt auf Knopfdruck nicht aus, es bleibt ein Spalt zwischen Bordstein und Bahn. Zum Glück ist Assistent Erich Pister dabei, er hat genug Kraft, um den Rollstuhl trotzdem sicher in die Bahn zu bekommen. Für andere Menschen im Rollstuhl, die alleine unterwegs sind, hätte die defekte Rampe im Zweifelsfall bedeutet, dass sie auf die nächste Bahn warten müssen. „Nur wenige Leute bieten in solchen Situationen Hilfe an“, sagt Pister aus Erfahrung.
Essener Innenstadt im Fokus
- Dieser Text ist Teil unseres Schwerpunktes „Innenstadt im Wandel“.
- Darin beleuchtet die Redaktion, wie sich der Stadtkern von Essen verändert hat.
- Es geht unter anderem um Handel, Gastronomie, Wohnen und Städtebau.
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Für das Duo geht die Fahrt los. Ihr erstes Ziel ist eigentlich der Hirschlandplatz, dort gibt es aber keinen Aufzug. Deshalb heißt es schon am Essener Hauptbahnhof aussteigen. Den Rest des Weges schiebt Pister den Rollstuhl, obwohl es kalt ist, leicht regnet und Acar keine Möglichkeit hat, einen Regenschirm zu halten. Am Hirschlandplatz macht sich Acar gemeinsam mit Sabine Porrmann ein Bild von der U-Bahnstation.
Betroffene müssen Wege durch die Essener Innenstadt genau kennen
Die beiden Frauen verbindet ihr Engagement als Inklusionsbeauftragte – Acar ist stellvertretend im Bezirk III zuständig, Porrmann im Bezirk I, also in der Innenstadt. Ihr Ziel ist es, Barrieren in der Stadt zu beseitigen, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am sozialen Leben zu erleichtern. Der Spaziergang durch die Essener Innenstadt soll zeigen, wie viel schwieriger es eine Rollstuhlfahrerin wie Gülay Acar aktuell noch hat. Und nicht nur sie – auch Personen, die mit dem Rollator unterwegs sind, die nur eingeschränkt oder gar nicht sehen können, müssen ihre Wege genau kennen.
Nächstes Hindernis für Acar ist ein hoher Bordstein, eine Absenkung ist in der direkten Umgebung nicht zu sehen – zumindest keine, der auch auf der anderen Straßenseite eine gegenüberliegt. Wieder ist Assistent Erich Pister gefragt, er lässt den Rollstuhl vorsichtig auf die Fahrbahn herunter, wendet – den Verkehr immer im Blick – und zieht ihn rückwärts hoch auf den gegenüberliegenden Gehweg.
Treppen werden zur unüberwindbaren Hürde
Oft ist Gülay Acar mit dem Auto unterwegs, das mache es aber nur bedingt leichter, sagt sie: „Parkplätze zu finden ist auch nicht so einfach.“ Zwar gebe es eine Reihe von Behindertenparkplätzen in der Innenstadt, aber die könnten bereits belegt sein und sie seien auch nicht für alle Fälle geeignet. Mal sei die Steigung problematisch, mal ein Bordstein oder Poller im Weg.
„Vieles ist gut gemeint, aber schlecht gemacht“, sagt Porrmann. „Wenn jemand alleine im elektrischen Rollstuhl unterwegs ist, sind viele Kanten unüberwindbar.“ Das sei zum Beispiel am Kennedyplatz mit seinen vielen Stufen der Fall. Nur von einer Seite ist er barrierefrei befahrbar. Die Verbindung zwischen Kennedy- und Kardinal-Hengsbach-Platz besteht ebenfalls aus Treppen. Die Rampen sind schon für Kinderwagen und Rollatoren sportlich steil. Pister traut sich nicht, Gülay Acar dort hinunterzuschieben und mit einem elektrischen Rollstuhl wäre es unmöglich. Das bedeutet: einen weiteren Umweg in Kauf nehmen.
Inklusionsbeauftragte setzen sich für ganz Essen ein
In der Rathausgalerie ist der Aufzug nur mit einem kleinen Symbol ausgeschildert. Die Essenerinnen haben hier Heimvorteil und kennen den Weg. Das gilt auch für die Wahl von Cafés und Restaurants. Sie müssen barrierefrei zugänglich sein und auch ebenerdige zu erreichende Toiletten haben. „Man muss einfach wissen, wo man durchkommt“, sagt Porrmann. „Es ist vieles möglich, aber es ist umständlich und erschwert den Alltag zusätzlich.“
Das kann Acar nur bestätigen. Wenn sie einen Termin habe, plane sie in der Regel eine gute Dreiviertelstunde für Umwege und unerwartete Hindernisse ein. Oft ist sie zu früh dran, aber in vielen Fällen ist sie sich selbst für den eingebauten Zeitpuffer dankbar. Sie hat Verständnis für schwierige bauliche Gegebenheiten. Aber sie wünscht sich Kompromisse. Zum Beispiel eine Klingel an Geschäften, die nicht barrierefrei sind.
„Ideal wäre es, wenn es gar keine Inklusionsbeauftragte geben müsste, weil die Teilhabe in unserer Gesellschaft ganz selbstverständlich möglich ist“, sagt Porrmann. Und Acar entgegnet: „Ich glaube leider nicht, dass wir das schaffen werden.“ Trotzdem kämpfen die beiden Frauen weiter, um Essen Jahr für Jahr etwas barrierefreier zu machen – auf den Straßen und in den Köpfen. Dabei erhoffen sie sich viel von einem Inklusionsbeirat, um die Kräfte zu bündeln.