Essen. Noch 2016 trudelten 600 Anzeigen pro Jahr ein, nun sind es fast 10.000: Warum die Stadt über die „explosionsartige Zunahme“ nicht glücklich ist.
Zehn Sekunden, vielleicht zwanzig: Länger habe er nicht mit dem Auto auf dem Radstreifen an der Frintroper Höhe gestanden, um einen Brief in den Postkasten zu werfen, beteuert Ernst Elverfeld. Aber es war dann eben doch eine Spur zu lang. Ein Radfahrer, der sich in seinen Rechten hätte behindert fühlen können, kam zwar nicht vorbei, dafür aber ein aufmerksamer Fußgänger mit Smartphone, der den Verstoß sogleich fotografierte und der Stadtverwaltung schickte. „Solche Privatanzeigen bei Verkehrsdelikten haben in den letzten Jahren explosionsartig zugenommen“, sagt Essens Ordnungsdezernent Christian Kromberg, der kein Hehl daraus macht, dass ihn die Anzeigenflut nur bedingt erfreut.
Die Zahlen rechtfertigen jedenfalls allemal Krombergs Kraftausdruck. Während im Jahr 2016 erst rund 600 solcher Bürgermeldungen die Verkehrsbehörde erreichten, waren es 2018 schon 3330, im Jahr 2019 ging es dann hoch auf 5423, und im Jahr 2020 schließlich auf 9446. Hier scheint nun vorläufig eine gewisse Sättigung erreicht, auch im laufenden Jahr dürfte sich die Zahl der Privatanzeigen auf knapp 10.000 einpendeln, so die Stadtverwaltung in einer Hochrechnung.
Manche reichen ganze Fotomappen ein, die den Vorfall dokumentieren
Erstaunlich sei, wie viel Mühe sich manche Zeitgenossen geben, denn keineswegs beschränke sich das Melden auf das schnelle Handyfoto. „Wir erhalten online ganze Fotomappen, die fein säuberlich und mit präzisen Zeitangaben dokumentieren, was passiert ist“, sagt Kromberg. Doch egal, ob schlampig oder akkurat, in jedem Fall ist die Stadt gezwungen, tätig zu werden. Bestätigt sich der Anfangsverdacht – als solcher wird eine Privatanzeige behandelt – wird ganz normal geahndet. Ernst Elverfeld war für sein verbotenes Halten auf einem Radweg mit 30 Euro dabei.
Seine subjektive Schilderung des Sachverhalts hat dem gehbehinderten Rentner nichts gebracht. „Ich habe strenggenommen sicher einen Fehler gemacht, empfinde die Strafe aber als unverhältnismäßig“, sagt Elverfeld. Der Mann, der sein Auto fotografierte, sei ihm bekannt, schon öfter sei er in Frintrop auf der Pirsch nach Verkehrssündern gewesen. „Ich frage mich schon, ob der das überhaupt darf.“
Juristisch sind Privatanzeigen mit Fotobeweis statthaft
Die Antwort ist klar: Juristisch sind Privatanzeigen mit Fotobeweis statthaft, und sie spülen der Stadt Essen jährlich eine sechsstellige Summe ins Haus – zusätzlich. Christian Kromberg hat trotzdem ein zwiespältiges Gefühl bei der Menge an Anzeigen, erst recht dann, wenn das Autopark-Thema Nachbarschaften zu entzweien droht, wie jüngst an der Kalkstraße in Schönebeck.
„Früher haben die Leute kleinere Probleme fast immer selbst geregelt, im Gespräch unter Nachbarn.“ Das habe den Vorteil, dass pragmatische Lösungen möglich sind, von denen Behörden in der Regel nie etwas erführen. „Wenn die Stadt dann aber ins Boot geholt wird, wird es schnell sehr formell“, so der Dezernent. Mit augenzwinkernden Einvernehmen ist es dann vorbei, einen Satz wie „Kriegen wir schon irgendwie hin“ kennt eine Behörde nicht. Vielmehr regiert dann quasi das Millimeterpapier, humor- und gnadenlos.
Ordnungsdezernent: Auto ist für manchen ein Feindbild geworden
Viele Bürger wollten aber eben genau das, sagt Christian Kromberg, der vor allem in Verkehrsfragen eine „Politisierung des Alltagslebens“ festgestellt hat. Der gesellschaftliche „Burgfrieden“ sei vielfach aufgekündigt, anders ließen sich die vielen Anzeigen kaum erklären. „Vor allem das Auto wird von manchen zum Feind erklärt, und Feinde darf man mit allen Mitteln bekämpfen.“ Das Ordnungsrecht sei für die politische Auseinandersetzung aber eigentlich nicht gedacht.
Natürlich: Wer eine Feuerwehrzufahrt oder einen Behindertenparkplatz blockiert, müsse mit allen Konsequenzen entfernt werden, betont der Ordnungsdezernent, der der CDU angehört. Auch andere grobe Verstöße verdienten keine Nachsicht. Das Kleinliche und Erzieherische aber, das aus vielen Privatanzeigen spreche, sei mitunter schon bedrückend.
Verein Fuss e.V. verteidigt die Anzeigenerstatter: Muss jeder selbst entscheiden
Für Wolfgang Packmohr vom Verein Fuss e.V. ist dies schwer nachvollziehbar. „Falsch geparkt, nicht so schlimm – das kann es nicht sein“, sagt der Ex-Polizist, der bis vor knapp zwei Jahren die Verkehrsdirektion im Essener Polizeipräsidium leitete. Er selbst suche immer erst das Gespräch mit Autofahrern, die Fehler machten, habe aber bei fehlender Einsicht seit seiner Pensionierung „drei oder vier Mal“ privat Anzeige erstattet, und halte dies auch für richtig. Als kleinlich oder ideologisch verbohrt verurteilen will Packmohr die Anzeigenerstatter jedenfalls nicht: „Jeder muss selbst wissen, wann er einen solchen Schritt für nötig hält.“
Grund für die Masse an Anzeigen sind Packmohr zufolge weder die Lust am Denunzieren noch an der politischen Erziehung, sondern die Vielzahl an Verstößen und die ungelösten Probleme im Straßenraum, unter denen schwächere Verkehrsteilnehmer immer mehr litten. „Wir fordern schon lange, dass die Stadt Essen das endlich angeht.“ Stattdessen regiere etwa beim Parken auf Gehwegen eine Laxheit, die der Gesetzgeber nicht vorsehe.
Christian Kromberg weiß, dass seine Haltung ein schmaler Grat ist für einen Mann des Gesetzes, denn in der Regel liegt ja bei den Privatanzeigen tatsächlich ein Vergehen vor, mag es auch oft ein kleines sein. „Wenn ich durch meine eigene Straße gehe, sehe ich auch jeden Tag mehrere Fahrzeuge, die ich abschleppen lassen könnte.“ Privatanzeige hat er allerdings noch keine erstattet.