Essen. Die Zahl der Erstimpfungen gegen Corona steigt spürbar. Vor der AOK standen Hunderte Impflinge geduldig Schlange. Viele zum ersten Mal. Warum?

Spät dran sein mit der Impfung und gleichzeitig zu früh: Sowas geht. An diesem Donnerstagmorgen lässt es sich an einer mehrere hundert Meter langen Schlange wartender Impflinge vor der Innenstadt-Zentrale der AOK ablesen. Eine erkleckliche Zahl von Impfneulingen hat sich hier mit der Schar der Booster-Willigen vereint. Gegen zehn Uhr soll’s losgehen, doch ein Blick vor die Tür, wo die Reihe immer länger wird, sorgt dann doch für einen Frühstart: Um 9.09 Uhr gehen die Türen auf: Ärmel hoch.

Auch AOK-Chef Oliver Hartmann und Sozialdezernent Peter Renzel haben sich unter die Maskierten gemischt, wollen sich persönlich überzeugen, dass es läuft. Und es läuft, stundenlang, und als am Abend die Schlange abgearbeitet ist, ist mit 1249 Impflingen, darunter 411 Erstimpfungen, ein neuer Rekord für den Standort aufgestellt.

„Das war mir die ganze Zeit nicht geheuer, aber ich muss es jetzt machen“

Dabei hält sich die Begeisterung derer, die dabei mitwirken, teilweise arg in Grenzen. Warum sie dennoch kommen? Jetzt erst? Ein Protokoll:

„Ich hatte einen Krankenschein, gar keine Kontakte, mir war das nicht so bewusst“, sagt eine 61-Jährige, die in einer Getränkefirma arbeitet: „Aber man hat mir gesagt, dass ich das jetzt für die Arbeit brauche.“ Nein, übermäßig skeptisch sei sie nicht. Eigentlich.

Impfen bei der AOK: Demnächst gibt es mehr Termine

Die AOK-Zentrale an der Friedrich-Ebert-Straße 49 impft jetzt im wöchentlichen Turnus jeweils donnerstags von 10 bis 17 Uhr, auch ohne vorherige Terminvereinbarung.Es ist die erste von drei festen Anlaufstellen, ein weitere nimmt am 29. November im Grillo-Theater den Betrieb auf, die dritte am 3. Dezember im ehemaligen Marienhospital Altenessen.Wie AOK-Regionaldirektor Oliver Hartmann am Donnerstag sagte, prüft sein Haus, die Impfungen im Januar und Februar nicht mehr nur an einem, sondern an drei oder vier Tagen pro Woche anzubieten.

„Ich aber“, sagt der 38-Jährige, der hinter ihr steht. Warum? „Das Ganze generell, was man in den Medien hört und so. Deswegen war mir das die ganze Zeit nicht geheuer, aber ich muss es jetzt machen. Wegen der Arbeit auch. Es hat keinen Sinn mehr.“ Er arbeitet im Abfall-Management.

Der junge Mann dahinter versteht nur wenig Deutsch. „Ist wichtig“, sagt er gebrochen und mit französischem Akzent. „Eine gefährliche Pandemie. Ich war beschäftigt und viel unterwegs mit PCR-Test. Aber jetzt habe ich gedacht, das ist besser, wenn man die Impfung nimmt und einen Ausweis hat. Das macht alles ganz einfach mit der Aktivität unterwegs.“

„Ich bin nicht immer die erste, die da hingeht und so. Ich dachte: Komm, warte mal“

„Dadurch dass es Corona erst seit zwei Jahren gibt und auch die Impfung erst sehr frisch auf dem Markt ist, ist das für mich so eine Sache“, sagt eine 28-Jährige: „Ich bin alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und spricht von „so vielen Todesfällen, auch durch die Impfung“: „Da habe ich natürlich erstmal abgewartet, damit der Impfstoff sich weiterentwickelt, wie sich herausstellt war der Stoff von Johnson & Johnson schlecht und wurde vom Markt genommen. Gut, dass ich gewartet habe.“

Nicht so abgeschottet wie einst im Impfzentrum an der Messe, aber abgeschirmt und für den schnellen Wechsel optimiert: die Impfkabinen in der AOK-Zentrale.
Nicht so abgeschottet wie einst im Impfzentrum an der Messe, aber abgeschirmt und für den schnellen Wechsel optimiert: die Impfkabinen in der AOK-Zentrale. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Ich bin hier, weil ich dazu gezwungen werde“, sagt der Mitarbeiter einer Fleischfabrik, 35 Jahre alt: „Weil ich sonst nicht mehr arbeiten gehen kann, sonst würde ich das nicht machen lassen. Der Impfstoff ist noch nicht so erprobt, es gibt so viele Krankheiten, für die es noch keinen gibt, und die sind schon viel viel länger bekannt. Es ging bei Corona einfach zu schnell, bis der Impfstoff auf dem Markt war.“

„Ich denk mal, das wird jetzt notwendig sein, ne?“, sagt eine 70-jährige Frau. Was sie bislang davon abgehalten hat, sich impfen zu lassen? „Ich bin nicht immer die erste, die da hingeht und so. Ich dachte: Komm, warte mal. Ich bin auch nicht irgendwie ernsthaft krank gewesen. Aber jetzt habe ich gesagt: Weil ich ja auch immer mit Bus und Bahn fahre, dann brauche ich das auch.“

„Wenn ich mal krank werde, kriege ich kein Geld, also was bleibt mir übrig?“

Ein junges Paar, sie 29, er 30: Sie stehen an, „weil wir keinen Ausweg mehr haben“, sagen sie unisono. „Wir hätten uns auf jeden Fall noch Zeit genommen.“ Sie hat Medizintechnik studiert: „Ich kenne mich mit klinischen Phasen aus. Die Zeitspanne, die man sich Zeit gelassen hat, um den Impfstoff zu erforschen, die war mir nicht so geheuer.“ Ihn als Straßenbahnfahrer ärgert, „dass man jetzt sofort reagieren muss als Arbeitnehmer, dass man gezwungen wird, sich impfen zu lassen. Finde ich schon traurig in so einem schönen Land wie Deutschland. Einen anderen Ausweg haben wir ja nicht mehr.“

Die Dame dahinter, 55 Jahre alt: „Ich dachte zuerst, ich kriege Nebenwirkungen und so. Aber jetzt wird es knapp, jetzt kriegt man eine Strafe. Ich konnte nicht ins Café am Hauptbahnhof, und dann hörte ich, in Geschäfte komme ich auch nicht mehr rein.“

Auf eine simple Formel bringt es die 59-jährige Frau hinter ihr in der Schlange: „Damit ich’s einfacher im Leben hab’“, lässt sie sich den Pieks geben. Mehr nicht? „Mehr nicht. Man hat die Freiheiten nicht mehr und fühlt sich einfach unter Druck gesetzt. Wenn ich mal krank werde, kriege ich kein Geld, also was bleibt mir übrig?“

Vor allem in den Morgenstunden war bei den Impfwilligen Geduld erforderlich. Je später am Tag, desto kürzer wurde dann die Warteschlange.
Vor allem in den Morgenstunden war bei den Impfwilligen Geduld erforderlich. Je später am Tag, desto kürzer wurde dann die Warteschlange. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Keine Lust und keine Zeit gehabt. Ich wollte nicht, aber jetzt müssen wir das machen“

Er steht an, „weil es jetzt erst so hart kommt“, sagt der 16-jährige Auszubildende. „Auf der Arbeit zum Beispiel. Ich brauche jeden Tag einen Test, das will ich nicht mehr machen. Und ich spiele Fußball, da muss ich jetzt auch geimpft sein, um mitzuspielen. Deshalb will ich das jetzt durchziehen.“ Ohne den Druck wäre er nicht gekommen? „Ich denke nicht, weil mir das nicht so wichtig war.“

Ein Ehepaar, beide 48, lässt sich impfen, „weil wir sonst keine Chance mehr haben“. „Das ist fast Pflicht“, sagt er. „Ich hab kein Vertrauen, leider“, sagt sie. Und: „Ich wurde nicht richtig über den Impfstoff informiert. Ich mach das, weil ich muss. Das finde ich nicht korrekt, weil: Man kann nicht selbst über seine Gesundheit entscheiden. Wir hoffen, dass das keine Nebenwirkungen hat.“

Der Möbelpacker, 60, zuckt mit den Achseln: „Keine Lust und keine Zeit gehabt. Ich wollte das nicht, aber jetzt sind wir dran und müssen das machen, wegen dem Arbeitgeber.“ Ansonsten müsse er ja negative Tests vorlegen, „da war ich gestern da und wurde abgewiesen. Machen wir nicht mehr, hieß es, nur für die, die Termine haben.“

Die 16-jährige Schülerin neben ihm kommt „einfach so zur Sicherheit, weil die Zahlen steigen“.

Überall nur 2G – „in gewisser Weise hat man jetzt keine Wahl mehr“

„Ich fühle mich gezwungen“, ärgert sich eine 31-Jährige, „die Gs schwinden, und weil ich gerne am Freizeitleben teilnehmen will, deswegen bin ich hier.“

Freuen sich über den Zuspruch zur Impfaktion (von links): AOK-Regionaldirektor Oliver Hartmann und der städtische Gesundheitsdezernent Peter Renzel.
Freuen sich über den Zuspruch zur Impfaktion (von links): AOK-Regionaldirektor Oliver Hartmann und der städtische Gesundheitsdezernent Peter Renzel. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ihr Nachbar in der Schlange, 67, bekam offenbar auch zuhause Druck ab: „Meine Frau hat sich schon geimpft und wollte, dass ich das auch mache.“ Und warum wollte er nicht von allein? „Ich war zu faul. Es ist schwer, beim Arzt einen Termin zu kriegen. Nicht alle alten Leute haben Computer, man muss alles online machen.“

„Ich weiß nicht, ich war halt irgendwie immer gegen die Impfung“, grübelt der 21-jährige Studienanfänger, den sie für eine Marketing-Kampagne gut gebrauchen könnten: „Im Nachhinein habe ich verstanden, dass die Impfung wichtig ist, erstens für meine Großeltern, damit ich die schütze, und zweitens auch für mich. Dabei war ich komischerweise noch nie krank, obwohl ich viel mit Corona-positiv getesteten Leuten zu tun hatte. In gewisser Weise hat man jetzt keine Wahl mehr, das nicht zu machen. Überall gilt ja 2G oder gar 2G plus, auch im Fitnessstudio, und ich bin ein ziemlicher Fitness-Fan, deswegen.“

Skeptischer sieht das die Dame hinter ihm: „Ich bin von der Wirksamkeit der Impfung nicht überzeugt“, sagt die 42-Jährige, „sonst wären die Zahl jetzt nicht so hoch. Das können nicht alles nur die Ungeimpften sein“. Sie ist „davon überzeugt, dass die Impfpflicht kommen wird, und da ich im Kindergarten arbeite, dass das auch vonnöten sein wird.“

Kurze Pause. „Haha, ,vonnöten’ ist richtig“, lacht sie da: „Nötigung.“