Essen. Heinrich Hirtsiefer war hoch angesehen, bis die Nazis den preußischen Minister aus Essen verhafteten. Ein Stolperstein erinnert an sein Schicksal

Sie erinnern an jene, die von Nationalsozialisten vertrieben, deportiert, ermordet oder in den Tod getrieben wurden: Zehn mal zehn Zentimeter große Messingtafeln, die – auf einem Stein – montiert ins Straßenpflaster eingelassen werden. Auf dass Spaziergänger darüber stolpern. Ein solcher „Stolperstein“ erinnert nun auch an Heinrich Hirtsiefer (1876 - 1941), Schlosser bei Krupp, Zentrumspolitiker, Minister in der Weimarer Republik und eine der bedeutendsten Persönlichkeiten, die diese Stadt hervorgebracht hat.

In diesem Haus an der Mercatorstraße in Altendorf wohnte der Sozialpolitiker und stellvertretende preußische Ministerpräsident Heinrich Hirtsiefer. Die Siedlung trägt seinen Namen.
In diesem Haus an der Mercatorstraße in Altendorf wohnte der Sozialpolitiker und stellvertretende preußische Ministerpräsident Heinrich Hirtsiefer. Die Siedlung trägt seinen Namen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Es ist eine kurze Zeremonie vor dem Haus in der Mercatorstraße 2 in Altendorf. Etwas Sand, ein paar gekonnte Schläge mit dem Fäustling. Claudia Kauertz, Leiterin des Stadtarchivs und stellvertretende Vorsitzende des Historischen Vereins für Stadt und Stift, auf dessen Initiative der Stolperstein verlegt wird, erinnert in kurzen Worten an das Wirken von Heinrich Hirtsiefer. Für dessen Enkelkinder Heinrich, Thomas, Klaus und Maria ist es ein besonderer Tag. Nur Maria Hirtsiefer wohnt noch in Essen, ihre Cousins leben verstreut über Deutschland und sind zu diesem Ehrentag angereist.

Hirtsiefer starb 1941 an den Folgen der Haft

Heinrich Hirtsiefer (83), der denselben Vornamen trägt wie sein Großvater, hat sich intensiv mit dessen Leben beschäftigt. Kennenlernen konnte er ihn nicht mehr. Hirtsiefer starb 1941 in Berlin an den Folgen der Strapazen und Misshandlungen, die er als Häftling im berüchtigten KZ Börgermoor ertragen musste. Die Nationalsozialisten hatten ihn dort inhaftiert. „Für die Nazis war er Staatsfeind Nummer eins“, sagt Heinrich Hirtsiefer, der Enkel. Hatte sich sein Großvater als stellvertretender preußischer Ministerpräsident doch der Machtübernahme widersetzt.

Die Enkelgeneration: Thomas, Heinrich, Maria und Klaus Hirtsiefer (v.l.).
Die Enkelgeneration: Thomas, Heinrich, Maria und Klaus Hirtsiefer (v.l.). © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Heinrich Hirtsiefer war zu dieser Zeit ein angesehner Politiker, dessen Wirken weit über seine Heimatstadt reichte. Dort wuchs Hirtsiefer als Spross einer Arbeiterfamilie in der Kronenbergsiedlung auf. Sein Vater war Fabrikarbeiter bei Krupp, er selbst lernt dort Schlosser und engagiert sich in der katholischen Arbeitnehmerbewegung. Hirtsiefer wird Funktionär im Metallarbeiterverband und 1906 Stadtrat. 1921 beruft ihn der preußische Ministerpräsident Otto Braun, ein Sozialdemokrat, in sein Kabinett. Hirtsiefer habe sich sein proletarisches Klassenbewusstsein bewahrt, wird Otto Braun über den Zentrumspolitiker sagen.

Heinrich Hirtsiefer wird Minister für Volkswohlfahrt, mehr als ein Jahrzehnt soll er dieses Amt innehaben. Als Minister setzt er Maßstäbe nicht nur im sozialen Wohnungsbau; die Hirtsiefersiedlung in Altendorf, wo er selbst wohnte, zeugt davon. Ohne Hirtsiefer gäbe es vermutlich weder den Baldeneysee noch den Nürburgring in der Eifel. Mit Projekten wie diesen bringt der Wohlfahrtsminister Menschen in Arbeit. Viel später wird man von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sprechen. Seine Herkunft hatte Hirtsiefer auch als Minister nicht vergessen.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wird Heinrich Hirtsiefer seines Ministeramtes enthoben und öffentlich gedemütigt.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wird Heinrich Hirtsiefer seines Ministeramtes enthoben und öffentlich gedemütigt. © Essen | Repro: Kerstin Kokoska

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird Hirtsiefer seines Amtes enthoben und in „Schutzhaft“ genommen, wie es verharmlosend hieß. Mitglieder der SA und der SS treiben ihn noch durch Essens Straßen. Die neuen Herrscher wollen Hirtsiefer öffentlich demütigen als Repräsentant der parlamentarischen Demokratie, die sie ablehnen, ja hassen.

Die Kordel, an der das Schild hing, das Hirtsiefer tragen musste, ist heute ein Ausstellungsstöck im Haus der Essener Geschichte.
Die Kordel, an der das Schild hing, das Hirtsiefer tragen musste, ist heute ein Ausstellungsstöck im Haus der Essener Geschichte. © Essen | Kerstin Kokoska

Um den Hals trägt er eine Kordel, daran ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin der Hungerleider Hirtsiefer.“ Ein Foto davon ist im Haus der Essener Geschichte ausgestellt, dazu die Kordel, an der das Schild befestigt war. Hirtsiefers Tochter Sophie hatte sie aufbewahrt, deren Nichte Maria überließ sie den Ausstellungsmachern.

Nach dem Krieg wird der eigenen Familie nicht viel über Heinrich Hirtsiefer gesprochen. „Mein Vater wollte diese Zeit möglichst fern von uns Kindern halten“, erzählt der Enkelsohn. Aber es gibt schriftliche Zeugnisse. „Mein Vater hat niedergeschrieben, wie es ihm und seinen Brüdern gelungen ist, meinen Großvater aus dem KZ zu befreien“, so Heinrich Hirtsiefer.

Über einen Freund der Familie wendeten sich Hirtsiefers Söhne an den päpstlichen Nuntius, den späteren Papst Pius XII, der sich für den Inhaftierten einsetzte. Sie selbst entgingen nur knapp einer Verhaftung, wurden aber auf anderen Wegen in Sippenhaft genommen, berichtet Heinrich Hirtsiefer. So habe sein Vater, Referendar am Landgericht Essen, sein Brot als Teppichverkäufer verdienen müssen.

1946 benannte die Stadt Essen eine Straße nach Heinrich Hirtsiefer

Heinrich Hirtsiefer kam frei. Seine Heimatstadt Essen durfte er aber bis zu seinem Tode nicht mehr betreten, es war ihm verboten worden. In Altendorf trägt die Hirtsiefersiedlung seinen Namen. Erbaut ab 1919 von Theodor Suhnel, einem Schüler Metzendorfs, zählt sie bis heute zu den schönsten Siedlungen der Stadt. 1994 ließ die Wohnungsgenossenschaft eine Büste zu Ehren Hirtsiefers aufstellen.

Schon kurz nach dem Krieg, im August 1946, benannte die Stadt Essen einen Teil der Mercatorstraße um in Hirtsieferstraße. So heißt sie bis heute. „Es war das erste Mal, dass eine Straße in Essen nach einem NS-Opfer benannte wurde“, so Claudia Kauertz. Seit Freitag stolpert man gleich um die Ecke, an der Mercatorstraße 2, über Heinrich Hirtsiefers Namen.

Sein Enkel schlägt nach der Verlegung des Stolpersteins in einer kurzen Ansprache einen großen Bogen in die Gegenwert. Für seinen Großvater sei der soziale Wohnungsbau ein Mittel gewesen, um einer Verelendung und Radikalisierung der Gesellschaft vorzubeugen, sagte Hirtsiefer und empfahl der Politik sich an seinem Großvaters ein Beispiel zu nehmen. Das Schicksal des Sozialpolitikers Heinrich Hirtsiefer zeigt jedoch auf tragische Weise, dass auch sein Wirken den Weg Deutschlands in die Katastrophe nicht hatte verhindern können.