Essen. Nur 1023 Stimmen fehlten SPD-Kandidat Gereon Wolters im Essener Südwahlkreis. Erklärungsversuche für eine knappe Niederlage am Tag danach.

Wie es ihm geht am Morgen danach? „Ganz gut“, sagt Gereon Wolters und klingt am Telefon so, als würde er sich selbst ein wenig aufmuntern. Er sei ja kein Berufspolitiker, der dafür bezahlt wird. „Ich habe einen Beruf, eine Familie.“ Das Leben geht weiter.

Viel hat nicht gefehlt, und das Berufsleben von Gereon Wolters hätte einen anderen Verlauf genommen. 1023 Stimmen fehlen ihm, um als direkt gewählter SPD-Kandidat im Essener Südwahlkreis nach Berlin zu ziehen. Um 0,7 Prozentpunkte liegt Matthias Hauer von der CDU am Ende vorne. „Ein Wimpernschlag“, sagt Wolters.

Für Wolters gibt es warme Worte, trösten können sie nicht

Als das Ergebnis nach endlosen Stunden feststeht, liegt eine nervenaufreibende Zitterpartie hinter dem 55-Jährigen. Es ist ein Auf und Ab. Mit mehr als 1000 Stimmen führt Wolters das Rennen um den Einzug in den Bundestag an. Als es so aussieht, als könnte es reichen, kommen Jakob (20) und Ruben (16), zwei seiner vier Söhne, zum Daumendrücken zur Wahlparty in der Severinstraße. Dann holt Hauer auf. Es wird ein Herzschlagfinale. Als nur noch die Ergebnisse aus zwei Stimmbezirken in Rüttenscheid und Bredeney ausstehen und Wolters mit rund 900 Stimmen hinten liegt, gesteht Parteichef Frank Müller die Niederlage im Südwahlkreis ein. Für den Kandidaten gibt es warme Worte. Trösten können sie nicht.

Ruben (16, l.)  und Jakob Wolters (20,r.) sind zur Wahlparty nach Essen gekommen, um ihrem Vater die Daumen zu drücken.
Ruben (16, l.) und Jakob Wolters (20,r.) sind zur Wahlparty nach Essen gekommen, um ihrem Vater die Daumen zu drücken. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Noch am Wahlabend fährt Wolters gemeinsam Philipp Rosenau, seinem Wahlkampfleiter, zur Wahlparty der Christdemokraten im Festzelt am Flughafen, um seinem Kontrahenten zu gratulieren. Für Wolters eine Selbstverständlichkeit, wie er selbst sagt. Um so überraschter ist er, als er feststellen muss, dass dies für andere offensichtlich gar nicht so selbstverständlich ist. Für seine Geste bekommt er von den noch 150 Anwesenden lautstarken Applaus. Die Christdemokraten lecken ihre Wunden, aber die Erleichterung, den Südwahlkreis wenn auch knapp gewonnen zu haben, überwiegt.

Bei den Zweitstimmen lässt die SPD die CDU im Essener Südwahlkreis hinter sich

Wolters zollt seinem Mitbewerber Respekt für dessen Wahlkampf. Gerade auf den letzten Metern hatte Matthias Hauer sich noch einmal reingehängt, um gegenüber der Wahl 2017 doch sieben Prozent an Erststimmen einzubüßen. Bei den Zweitstimmen wurde die CDU mit 24,4 Prozent sogar nur zweite politische Kraft. Die SPD holte 28,03 Prozent, fast vier Prozentpunkte mehr als vor vier Jahren.

Dabei schien auch diesmal vieles für den Kandidaten der CDU zu sprechen. Als Kreisvorsitzender und Bundestagsabgeordneter ist Matthias Hauer bestens vernetzt und seinem Wahlkreis bekannt. Da hatte sein Herausforderer von der SPD, der Jura-Professor aus Bochum-Querenburg, es deutlich schwerer. Umso beachtlicher, dass er sich Hauer nur knapp geschlagen geben musste.

Gereon Wolters verfolgt am Smartphone die Stimmenauszählung. Am Ende fehlen dem SPD-Kandidaten für den Essener Südwahlkreis 1030 Stimmen zum Sieg.
Gereon Wolters verfolgt am Smartphone die Stimmenauszählung. Am Ende fehlen dem SPD-Kandidaten für den Essener Südwahlkreis 1030 Stimmen zum Sieg. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Es sei schade, dass sie nicht beide in den Bundestag einziehen, wo er selbst „eine Expertenstimme in Rechtsfragen“ hätte sein können, sagt Wolters. Doch die SPD hatte ihn auf der Landesreserveliste zu weit hinten platziert, um ihm auf diesem Umweg den Sprung ins Parlament doch noch zu ermöglichen. Seiner Partei ist Wolters deshalb nicht gram. Als politischer Quereinsteiger habe er keinen besseren Listenplatz erwarten dürfen gegenüber all den anderen, die die sonst übliche Ochsentour hinter sich gebracht haben. Was ja typisch sei für alle Parteien, wie Wolters noch schnell anfügt.

Was ihn fuchst, ist vielmehr das Stimmverhalten jener, die auf dem Wahlzettel beide Kreuze bei den Grünen gemacht haben. Statt taktisch zu wählen, gaben viele den Grünen auch die Erststimme. Deren Spitzenkandidat Kai Gehring – mit sicherem Listenplatz ausgestattet – kam so auf 18,9 Prozent. Ein stolzes, aber am Ende wertloses Ergebnis. Wie heißt es bei Abba: „The Winner Takes It All“ – der Gewinner bekommt alles, in diesem Fall das Ticket nach Berlin. Viele FDP-Wähler machten es anders, indem sie dem CDU-Kandidaten ihre Erststimme gaben. Nur deshalb konnte Hauer sein Abgeordneten-Mandat verteidigen.

Viele Wähler der Grünen stimmen nicht taktisch ab, Wolters ist darüber fassungslos

Seiner Partei und auch ihm selbst sei es offensichtlich im Wahlkampf nicht gelungen, die Botschaft zu vermitteln, dass jede Erststimme für die Grünen eine Stimme gegen Rot-Grün sei, sagt Wolters, der sich selbst als „grüner Roter“ bezeichnet. Inhaltlich gebe es viele Übereinstimmungen mit der selbst ernannten Öko-Partei. Der Kohleausstieg zum Beispiel kommt auch für Wolters viel zu spät.

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Doch von grüner Seite gab es keinen Aufruf, ja nicht einmal sein Signal an die eigenen Wähler, die Erststimme dem Kandidaten der SPD zu überlassen, wie Wolters feststellen muss. Dass es nicht gelungen sei, das Direktmandat für Rot-Grün zu gewinnen, obwohl beide Parteien zusammen auf fast 50 Prozent der abgegebenen Stimmen kommen, macht ihn auch am Tag nach der Wahl ein stückweit fassungslos. „Geradezu idiotisch“ sei das. Spielten lokale Besonderheiten eine Rolle wie das schwarz-grüne Bündnis im Essener Stadtrat? Wolters kann darüber nur spekulieren.

Die Gründe für die hauchdünne Niederlage im Südwahlkreis gelte es aufzuarbeiten. Am Montag kommt der Parteivorstand zur Wahlnachlese zusammen. Auch Gereon Wolters wird dabei sein als Kandidat und stellvertretender Vorsitzender des Essener SPD-Unterbezirks. Und wie steht es um seine politische Zukunft? War es das für ihn als Bundestagskandidat nach zwei vergeblichen Anläufen? Man sei immer gut beraten, über alles zwei Mal zu schlafen, sagt er darauf angesprochen. Eine Nacht hat er hinter sich. Was denken sie in der Partei? Wolters will sich erst einmal alles anhören.

Seine persönliche Entscheidung wäre wohl längst gefallen, wäre er zwanzig Jahre jünger. In vier Jahren, bei der nächsten Bundestagswahl, ist Wolters 59. „Es sollten ja auch mal Jüngere ran“, sagt er. Ganz leise klingt das nach Abschied.