Essen. Das SPD-Hoch kommt auch in Essen an: Mandatsrechner bescheinigen der Partei den Gewinn des Direktmandats. Und eine wahre Abgeordneten-Wanderung.

Mit den Wahlprognosen für den Essener Mitte-Süd-Wahlkreis lief es zuletzt wie in dem bekannten Liedermacher-Klassiker von Hannes Wader: „Heute hier, morgen dort.“ Noch im Frühjahr raunte ein Internet-Portal, da werde womöglich der Grüne das Rennen machen. Danach war wieder der schwarze CDU-Bewerber vorn, und als die SPD bundesweit wie Phönix aus der Asche stieg, erstrahlte Wahlkreis 120 auf der Mandatsrechner-Karte in einem blassen Rosarot: Erobern die Genossen den Süden zurück?

Noch gibt es weder Triumph-Geheul auf der einen noch Verwünschungen auf der anderen Seite. Zu unsicher sind die Voraussagen, zu umkämpft dieser Wahlkreis, der seit seinem letzten Neuzuschnitt nicht mehr nur den bloßen Süden, sondern einen Großteil des Essener Stadtgebiets umfasst – mit immerhin 190.000 Wahlberechtigten in einem gedachten Dreieck zwischen Altendorf, Burgaltendorf und Kettwig.

Wahlkreis 120 - bewegte Geschichte seit Kaiser und Huber

Der Wahlkreis 120 im Essener Süden hat eine bewegte Geschichte: Er ebnete dem Widerstandskämpfer und CDU-Mitbegründer Jakob Kaiser im Nachkriegs-Deutschland genauso den Weg ins Parlament wie Ex-OB Hans Toussaint oder Bundesfamilienministerin Antje Huber.Von 1969 bis 2009 wurden vier Jahrzehnte mit SPD-Siegen – davon vier für Ingrid Becker-Inglau – nur einmal jäh unterbrochen, zur vorgezogenen Bundestagswahl 1983, als CDU und FDP mit Kanzler Helmut Kohl die Wende postulierten und Paul Hoffacker für die CDU den Süd-Wahlkreis direkt gewann.Erst 30 Jahre später, im Herbst 2013, gelang dies den Christdemokraten mit Matthias Hauer erneut: Er luchste der damaligen Abgeordneten Petra Hinz mit knappem Vorsprung das Direktmandat ab und setzte sich vier Jahre später deutlich gegen seinen SPD-Herausforderer Gereon Wolters durch.

2013 siegte CDU-Bewerber Matthias Hauer mit gerade mal 93 Stimmen Vorsprung

Eine schwer einschätzbare Bevölkerungs-Mixtur, deren Anhänger kleinerer Parteien noch dazu ausgesprochen geübt darin sind, per Stimmen-Splitting dem Lieblings-Kandidaten einen Extra-Schub für Berlin zu verleihen. Denn nur wer am Ende die meisten Erststimmen erringt, zieht aus seinem Wahlkreis direkt in den Deutschen Bundestag ein. Wie knapp es dabei zugehen kann, erlebten die Essenerinnen und Essener am Abend der Bundestagswahl 2013, als CDU-Kandidat Matthias Hauer mit gerade mal drei Stimmen Vorsprung das Rennen machte.

Bei so hauchdünnen Mehrheiten wird für gewöhnlich neu ausgezählt, so auch in Essen, denn die Ergebnisse basieren auf protokollierten Schnellmeldungen aus den Stimmlokalen. Da können Zahlendreher vorkommen, was nur bei größeren Vorsprüngen nicht weiter ins Gewicht fällt. Am Ende lag Hauer mit immer noch 93 Stimmen vor der damaligen SPD-Bewerberin Petra Hinz.

SPD-Kandidat Wolters: „Vielleicht wollen die Leute ja wieder mal experimentieren?“

Die Sozialdemokratin, die wegen ihres erschwindelten Juristen-Lebenslaufs später bundesweit Berühmtheit erlangte, zog dennoch über die Landesliste ins Parlament ein, und so könnte es auch dem 2013 und 2017 direkt gewählten Hauer ergehen, sollte sein Herausforderer Gereon Wolters das Direktmandat für die Sozialdemokraten zurückholen. Bei einem schlechten Abschneiden der CDU dürfte Hauers Platz 11 auf der NRW-Landesliste als sicher gelten.

Für Wolters hingegen, Jurist wie Hauer und nach dem Hinz-Desaster als Kandidaten-Import aus dem benachbarten Bochum gekommen, wäre der Direkteinzug in den Reichstag nicht weniger als eine faustdicke Überraschung. Er sinniert über mutige knallrote Scholz-Plakate und den seiner Ansicht nach biederen Werbeauftritt der christdemokratischen Konkurrenz im gewohnt schwarz-rot-goldenen Adenauer-Style. „Keine Experimente!“, signalisiere das, sagt Wolters, „aber vielleicht wollen die Leute ja wieder mal experimentieren?“

Bei einem aufgeblähten Bundestag könnte es auch die linke Kandidatin schaffen

Wenn’s ganz kurios läuft, könnte der Essener Mitte-Süd-Wahlkreis der einzige unter bundesweit 299 sein, der im Extremfall gleich fünf Bundestagsabgeordneten den Weg nach Berlin ebnet: Abseits von Gereon Wolters (SPD) und Matthias Hauer (CDU) haben Kai Gehring (Grüne) und Stefan Keuter (AfD) mit ihren Listenplätzen 16 bzw. 12 den Platz im Parlament wohl sicher. Ein auf um die 900 Sitze spürbar aufgeblähter Bundestag mit vielen Überhangs- und Ausgleichsmandaten könnte aber auch Ezgi Güyildar (Linke) einen Sitz sichern.

Sie rangiert auf dem elften Listenplatz ihrer Partei und war auf Grundlage einer Wahlumfrage des Markt- und Sozialforschungsinstitut INSA von Montag im Bundestag vertreten. Zwei Prognosen tags darauf sahen sie wieder draußen. Und die jüngste von YouGov sieht nicht nur sie als Abgeordnete, sondern auch ihren Essener Mitstreiter, den nächstplatzierten auf der Linken-Liste, Shoan Vaisi. Und plötzlich liegt bei einem Mandatsrechner auch Hauer wieder vor Wolters. Es hilft wohl alles nichts: Entschieden wird nicht am Rechentisch, sondern im Wahllokal am Sonntag in einer Woche.

Hier finden Sie die Kandidaten-Porträts aus dem Wahlkreis 120: