Essen-Rüttenscheid. Fast 60 Jahre war die evangelische Versöhnungskirche ein Mittelpunkt im Rüttenscheider Süden. Warum Schließung und Abriss unausweichlich sind.
Seit 1964 besteht die Versöhnungskirche an der Alfredstraße, am Pfingstsonntag wird sie nun außer Dienst gestellt. Die Evangelische Kirchengemeinde lädt zum Besuch ein und hat ein Erinnerungsbuch vorbereitet, gefüllt mit Geschichten und Fotos, die Menschen aus der Gemeinde beigesteuert haben.
Für Rüttenscheiderin war die Versöhnungskirche ihr zweites Zuhause
Für Elisabeth, genannt Käthe, Heim bildet die Kirche ihr zweites Zuhause, wie die 86-Jährige in dem Band schreibt. Nach dem Krieg war sie mit ihrer Familie nach Rüttenscheid gekommen, ging hier zur Konfirmation. Auch heute noch hat die Essenerin die Bilder gut vor Augen, als ihre Brüder dabei halfen, symbolische Bausteine gegen eine Spende zu verkaufen. Denn für den Bau der Kirche habe man Geld gebraucht, erzählt Heim. An der Notwendigkeit des Gebäudes bestand kein Zweifel, die Gemeinde war in den 50er Jahren stark gewachsen. Da fielen die Würfel zu Gunsten einer neuen Kirche im Floraviertel. Die Reformationskirche in der Mitte von Rüttenscheid platzte aus allen Nähten.
Hatte Elisabeth Heim 1957 noch dort den Bund fürs Leben geschlossen, wurde ihre Tochter dann 1968 in der Versöhnungskirche getauft. Vier Jahre zuvor war die Einweihung des Gebäudes erfolgt, das neben dem Raum für Gottesdienste auch viel Platz bot, damit sich Gruppen und Vereine treffen konnten. Die Rüttenscheiderin sollte sich später dem Frauenkreis anschließen, für den- wie für viele andere Akteure - das Haus zum Dreh- und Angelpunkt wurde. Ob Singen, Spielen, Gedächtnistraining, Geburtstagsfeiern oder Vorträge, die Versöhnungskirche galt als beliebter Ort.
Auf dem Grundstück sollen Seniorenwohnungen entstehen
Mit der Arbeit an dem Erinnerungsbuch begann die Gemeinde noch vor Corona. Doch nach einigen wenigen Treffen, verständigte man sich auf digitalem Weg.
Das Buch wird zum einen ausgelegt werden, um darin blättern zu können. Darüber hinaus können Besucher auch ein Exemplar zum Preis von zehn Euro erwerben.
Nach der Grundsteinlegung im September 1962 wurde die neue am 3. Mai 1964 Kirche eingeweiht. Sie wurde im nüchternen und als modern empfundenen Stil der 1960er Jahre erbaut.
Markant ist insbesondere der Turm, der wie ein Ausrufezeichen wirkt und ein weithin sichtbares Symbol darstellt.
Der Abriss soll nicht vor 2023 erfolgen. Die Adolphi-Stiftung will dann dort Seniorenwohnungen errichten. Zu dem Komplex soll auch ein Gottesdienstraum gehören.
Davon berichten auch Nina und Jürgen Clausen in dem Erinnerungsbuch. Das Paar kam aus dem hohen Norden nach Rüttenscheid. Mit der Versöhnungskirche verbinden sie, Anschluss in der neuen Heimat gefunden zu haben. Hier kamen vielerlei Kontakte zustande und sie fühlten sich von Anfang an wohl. Bedauerlich sei es, wenn nun das Ende der Kirche bevorstehe, schreiben die Eheleute. Aber angesichts der finanziellen Zwänge führe daran wohl kein Weg vorbei.
Betriebskosten von 70.000 Euro pro Jahr waren für Gemeinde nicht mehr tragbar
70.000 Euro an Betriebskosten Jahr für Jahr, so sagt es Pfarrer Jörg Herrmann, im Gespräch mit dieser Zeitung, könne die Gemeinde nun mal nicht mehr schultern, die mit einem Defizit von 25.000 Euro kämpfe. Als das Presbyterium vor zwei Jahren den Beschluss gefasst habe, sich von der Kirche zu trennen und sie demnächst abreißen zu lassen, sei das schweren Herzens geschehen. Doch die Reformationskirche warte mit einem großen Raumprogramm auf, zudem gebe es noch das Zentrum an der Isenbergstraße. Schließlich werde für das Grundstück an der Alfredstraße eine Nachfolgelösung angestrebt, die einem wachsenden gesellschaftlichen Bedarf entspreche, nämlich Wohnungen für ältere Menschen anzubieten.
Der Seelsorger erinnert zugleich aber auch an die Entwicklung, die die Versöhnungskirche genommen hat. Während zunächst die Mitgliederzahlen stark anstiegen, sollte sich die Kurve alsbald abflachen und dann in die entgegengesetzte Richtung zeigen. Als die Gemeinde, inzwischen selbstständig geworden, vor einigen Jahren zum Rüttenscheider Ursprung zurückkehrte, waren es noch 1800 Gläubige. „Die kleinste evangelische Gemeinde in Essen“, so Herrmann.
Abschiednehmen von der Kirche im 20-Minuten-Takt
Einen Aufschrei habe der Schließungsbeschluss nicht hervorgerufen, betont der Pfarrer. Diskussionen und Kontroversen gab es indes schon. Manche Menschen beklagen, dass die Wege zur Reformationskirche doch weit seien. Sie müssen sich aber dann häufig anhören, dass man zum Rüttenscheider Markt oder zum Einkaufen auf der Rü etwa gleich lange Entfernungen zurücklege.
Trotz allem spüren manche Gläubige Wehmut oder sind wie Käthe Heim es formuliert „sehr sehr traurig“. Am Sonntag zwischen 10 bis 13 Uhr wird die Kirche noch einmal geöffnet sein. Wegen Corona habe man auf einen Gottesdienst verzichtet, betont Herrmann. Nun ist folgender Ablauf geplant: Um möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, noch einmal im Kirchraum zu sein, Musik zu hören und eine Kerze zu entzünden, ist der Aufenthalt für alle Besucherinnen und Besucher auf 20 Minuten begrenzt.
Dabei werden sicherlich auch Kinder und Jugendlichen dabei sein, die die Jugendräume der Versöhnungskirche einst zu neuem Leben erweckten. Zum Basteln, Kochen, Quatschen kamen sie zusammen, starteten von hier aus zu manchen Ausflügen. Und sie machten mit einem Namen von sich reden, der aus einem Jux entstanden war, als flackerndes Licht und zufallende Türen den Eindruck erweckten, es spukt. Der Name hat das Zeug, das Gotteshaus zu überdauern: Kirchengespenster.