Geschichtslehrer Georg Schrepper ist Vereinshistoriker bei Rot-Weiss Essen: Darum ist RWE auch für Fünftklässler immer noch ein besonderer Verein
Herr Schrepper, warum ist Rot-Weiss Essen ein besonderer Verein?
Georg Schrepper: Sandy Sandgathe singt es ja so wunderbar in seinen Liedern: „Scheiß egal in welcher Liga, immer wieder RWE.“ Man ist Bayern-Fan, weil die alles gewinnen. Bei Borussia Dortmund ist es im Grunde auch so. Als Fan kannst du dich da über vieles freuen. Bei Rot-Weiss ist die Saison meistens schon im September gelaufen. Dann sagen viele: Da geh‘ ich nicht mehr hin. Im Mai gewinnt RWE dann den Niederrhein-Pokal und alle stehen Schlange, um sich eine Dauerkarte für die neue Saison zu kaufen.
Aber warum rennen alle immer wieder hin? RWE ist kein Verein für Optimisten.
Und trotzdem sagst du dir: In der nächsten Saison steigen wir ganz bestimmt auf. Die Leidensfähigkeit der Fans ist unheimlich groß. Auch das macht RWE aus.
RWE spielt seit zwölf Jahren in der vierten Liga, war sogar fünftklassig.
Beim ersten Spiel in der 5. Liga gegen den VfB Homberg wusste niemand, wie viele Zuschauer kommen würden. Dann waren es über 6000. Und Alexander Thamm liegt kurz vor Schluss quer in der Luft und haut den Ball zum 1:0 rein und das wird dann auch noch Tor des Monats.
Wird man deshalb RWE-Fan?
Ich habe neulich mit einem meiner Schüler darüber gesprochen: Sven, wie bist du eigentlich Rot-Weiss-Fan geworden? Sein Cousin hatte ihn zum ersten Mal mit ins Stadion genommen, gar nicht mal der Vater, wie bei so vielen anderen. Sven sagte, er sei fasziniert gewesen von der Stimmung und dem Gemeinschaftsgefühl. Seitdem steht er bei Heimspielen auf der Westkurve.
Bei Sven war’s der Cousin, bei vielen der eigene Vater. Fan-Sein wird also vererbt?
Das ist so. Bei mir war es auch so. Ich war zum ersten Mal mit meinem Vater da. 1975, beim 2:1 gegen
Zur Person
Georg Schrepper ist im wahren Leben Studiendirektor am Don-Bosco-Gymnasium in Borbeck. Der 55-Jährige unterrichtet dort Geschichte und Sport. Neben Fachaufsätzen und mittlerweile über 120 Beiträgen für die RWE-Vereinszeitung „Kurze Fuffzehn“ hat Schrepper gemeinsam mit Uwe Wick mehrere Bücher über den Traditionsverein aus dem Essener Norden geschrieben.
Georg Schrepper ist seit 2010 ehrenamtlicher Vereinshistoriker von RWE. Seine Mitgliedschaft im Verein hat er kürzlich verlängert – auf Lebenszeit.
Hertha BSC. Ich musste als Neunjähriger meine Cola-Dose vor dem Stadion austrinken, weil man Angst hatte, ich könnte sie als Wurfgeschoss benutzen.
Wie der Vater so der Sohn – das gilt auch für andere Clubs.
Natürlich. Du sagst ja nicht umsonst: Gegen zwei Sachen kannst Du Dich nicht wehren: Das sind die Eltern und der Verein. Beide stiften Identität. Wir spüren nationale Identität, wenn wir mit der Nationalmannschaft mitfiebern. Wir haben eine regionale Identität, wenn es heißt: Wir sind das Ruhrgebiet. In erster Linie haben wir aber eine lokale Identität, die sich teilweise soweit runterbrechen lässt, dass Du zwischen Ober- und Unter-Frintrop und zwischen Ober- und Unter-Dellwig unterscheidest. Ich glaube, das ist ganz entscheidend, ob du dich mit deiner Stadt identifizierst. Und Rot-Weiss Essen ist eben der Stadtverein.
Der sportliche Erfolg ist dann gar nicht so wichtig?
Letztlich ist es fast egal, in welcher Liga dein Verein spielt. Bei Rot-Weiss kommt hinzu, dass dort Spieler gekickt haben, die den Fußball besonders gemacht haben. Echte Typen, die eine gewisse Schlitzohrigkeit mitgebracht haben. Ob das Willi Lippens war, Frank Mill oder Manni Burgsmüller. Dazu kommt Horst Hrubesch, der von sich sagt, er trägt die HSV-Raute in seinem Herzen und RWE.
Aber das ist lange her.
Ihre Tore kann man sich auf Youtube anschauen. Da findet man ganz viel, gerade aus den 1970er Jahren.
Jüngeren Fans sagt vielleicht August Gottschalk nichts, der Kapitän der Meistermannschaft von 1955. Aber mit Mill, Lippens oder Hrubesch können sie sehr wohl etwas anfangen. Und das gibt es bei Rot-Weiss auch: In dieser Saison wurden zwei Spieler für das Tor des Monats nominiert. Oder das Freistoßtor von Kevin Grund gegen Düsseldorf II...
...zwei Mitspieler laufen scheinbar unabsichtlich ineinander, lenken den Düsseldorfer Torhüter ab, so dass Grund den Ball ins Tor schießt..
...das wurde auf Youtube über 13 Millionen Mal angeklickt.
Auch andere Vereine haben eine lange Tradition und große Spieler.
Die hat Borussia Dortmund natürlich auch. Und auch der Verein, der nördlich von Essen spielt. Rot-Weiss hat seine Geschichte von Anfang an gepflegt. Einer der Vereinsgründer war Karl Utzat. Der hat fünf Häuser weiter als Georg-Melches gewohnt, in der Wildstraße Nr. 18. Utzat schreibt schon 1925 in der ersten Vereinszeitung über die Anfänge von Rot-Weiss Essen. Über Jahrzehnte hinweg wird diese Geschichte dann immer ein Stück weitererzählt. Vorstand Michael Welling hat daraus 2010 eine Strategie entwickelt: RWE als Marke. Und: Etwas unterscheidet RWE von Traditionsvereinen, die sportlich vielleicht erfolgreicher sind: Wir erleben heute eine Überkommerzialisierung im Fußball. Manchen ist das zu viel. Für die ist ein Verein wie Rot-Weiss deshalb interessant.
Tradition als Markenkern – das funktioniert?
In der letzten Saison hat Rot-Weiss ein Sondertrikot rausgebracht. 2020 spielte RWE seit 100 Jahren an der Hafenstraße. Die Leute standen zwei, drei Stunden Schlange und waren total sauer, weil es nicht genug Trikots gab. Die ersten 600 waren ruckzuck ausverkauft. Das zeigt die Verbundenheit mit dem Verein und auch mit einem bestimmten Ort.
Dabei wurde das Georg-Melches-Stadion vor Jahren abgerissen.
Richtig. Und die größten Erfolge hat RWE ja gar nicht im Georg-Melches-Stadion vor der Haupttribüne gefeiert. Die haben vor der alten Haupttribüne stattgefunden. Die neue Haupttribüne hat sogar zum Abstieg von Rot-Weiss beigetragen.
Weil sie so teuer war.
Paul Nikelski hat immer gesagt, die Tribüne hat uns zu Oberligazeiten jedes Jahr fünf Spieler gekostet. 1957 ist sie fertig geworden, 1961 steigt Rot-Weiss ab. Aber trotzdem war das Stadion ein Ort, der für viele bedeutend war und ist. Auch heute noch. Am Stadion Essen gibt es das einzige Freiluftmuseum als Vereinsmuseum Deutschlands. Und bis heute ist kein Exponat beschädigt worden. Eins wurde gestohlen, ganz säuberlich rausgetrennt, weil es so schön war, dass es jetzt wahrscheinlich irgendwo in einer Kellerbar hängt: Das Einladungsplakat zum Endspiel 1953, daneben zwei Bilder aus dem Pokalfinale. Sie sind aber erneuert worden.
Wie lange kann Tradition tragen? Wenn noch nicht mal mehr der Vater davon erzählen kann, sondern vielleicht noch der Opa. Irgendwann steht es nur noch in Büchern.
Die Details kennen viele auch gar nicht. Aber dieses Gefühl ist einfach da: Rot-Weiss ist etwas Bedeutendes.
Wir haben ein bewusstes oder unbewusstes Geschichtsbewusstsein. Es nützt natürlich nicht nur in der Vergangenheit zu schwelgen, um aufzusteigen. Das ist die sportliche Seite. Aber um die Frage zu beantworten, warum wird dieses RWE-Virus oder RWE-Gen immer wieder weitergegeben? Das ist die Kraft der Geschichte. Dass wir Vergangenheit erzählend weitergeben und bewusst oder unbewusst die nächste Generation davon begeistern, in diesem Fall von einem Verein. Warum würde sich sonst ein Zehnjähriger ein RWE-Trikot wünschen.
Wie sieht es in Ihrer Schule aus?
In der fünften Klasse habe ich noch nie so viele Schüler im RWE-Trikot gesehen wie jetzt. Aber an unserer Schule ist bekannt: Beim Schrepper im Sportunterricht darf man vor allem keine blau-weißen Trikots tragen. Wir haben ja einen Erziehungsauftrag, sage ich den Älteren dann augenzwinkernd. Aber die wissen ja auch: Was RWE angeht, hat der Schrepper einen Knall.