Essen. Nah dran wie nie: Mit dem Einsatz von VR-Brillen wird das Schauspiel Essen zum digitalen Vorreiter. Ein virtueller Theaterabend als Selbstversuch
Das Theater kommt per Lieferdienst nach Hause. Der Kurier bringt das nötige Equipment am frühen Abend und sorgt Stunden später auch wieder für die Abholung. Im Angebot hat das Essener Schauspiel-Lieferando allerdings keine besonders leichte Kost. Mit „Der Reichsbürger“, dem Stück von Konstantin und Annalena Küspert, meldet sich das Essener Theater aus der monatelangen Pandemie-Zwangspause zurück. Allerdings nicht auf der Bühne, sondern im virtuellen Raum.
Als nach eigenen Angaben bislang erstes Theater in NRW setzt das Schauspiel Essen auf Vorstellungen mit der Virtual Reality (VR)-Brille. In Zeiten von social distancing ist das eine ganz besondere Erfahrung, denn so nah dran am Bühnengeschehen war der Zuschauer noch nie.
VR-Brille und Kopfhörer werden am Vorstellungsabend per Bote geliefert
Für die Produktion, die am 6. Mai Premiere feiert, hat das Essener Theater zunächst technisch aufgerüstet. 50 VR-Brillen wurde mit Hilfe der Brost-Stiftung angeschafft, die Inszenierung auf die 360-Grad-Perspektive abgestimmt, spezielle Soundeffekte runden das Erlebnis ab. VR-Brille und Kopfhörer werden am Vorstellungsabend per Bote an Zuschauer im Essener Stadtgebiet geliefert, die Bedienung ist tatsächlich kinderleicht.
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Die virtuelle Vorstellung startet nach dem Aufsetzen der Brille auf Knopfdruck. W-Lan oder Strom ist nicht nötig. Wer eine Pause einlegen möchte, muss nur die Brille absetzen, der Film stoppt automatisch. Als Sitz empfiehlt sich ein Drehstuhl, denn 360-Grad-Theater ist tatsächlich eine neue Rundum-Erfahrung. Der Zuschauer sitzt mittendrin im Geschehen, kann den Raum in alle Richtungen überblicken und erleben, wie einem der Reichsbürger in seinem beklemmenden Monolog bisweilen ziemlich nahe rückt.
Man fühlt sich direkt angesprochen
Stefan Diekmann spielt diesen Wilhelm, der da allein in seinem Theaterbunker gegen den Staat und sein System wettert, die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik Deutschland leugnet und seinem Gegenüber mit einem fiktiven Ausweis des Deutschen Reiches vor der Nase herum wedelt. 2019 hatte die erfolgreiche Inszenierung von Thomas Krupa in der kleinen Box des Schauspiel Essen Premiere. Es gab auch während der Vorstellung teils kontroverse Publikumsreaktionen. Die fallen nun weg, was der emotionalen Wirkung des Abends nach Ansicht des Intendanten Christian Tombeil aber keinen Abbruch tut. Man fühle sich direkt angesprochen und „kann sich nicht mehr in der Menge verstecken.“
Dass man allein mit diesem eindringlichen Rhetoriker und seinem kruden Weltbild aus rassistischen Verschwörungstheorien und verqueren Unabhängigkeitsfantasien bleibt, das Schauspiel-Foyer als Raum für nachträglichen Austausch also ausfällt, ist vielleicht ein Schwachpunkt dieser Form vom Theater. Technisch möglich sei der Einsatz von VR-Brillen beispielsweise aber auch für ein anschließendes Nachgespräch mit den Dramaturgen, erklärt Tombeil.
Das digitale Projekt soll auch über die Pandemie hinaus Bestand haben
Am Schauspiel Essen will man mit dem Projekt jedenfalls ein neues, digitales Experimentierfeld erschließen, das über die Pandemie hinaus Bestand hat. Zudem soll es signalisieren, dass auch Kultur im Netz Einnahmen generieren kann und nicht länger nur als kostenlos versendetes Lebenszeichen aus den verwaisten Theatersälen verstanden werden soll. Die Buchung inklusive Lieferung kostet 25 Euro.
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Ob Livestreams nach Corona noch eine Zukunft haben, ist für den Theaterchef jedenfalls fraglich. Mit dem Einsatz der VR-Brillen jedoch sei ein „neues Forschungsgebiet zum Austoben“ aufgetan worden. „Ich betrachte das nicht als Lückenfüller, sondern als eigene ästhetische Form“, sagt Tombeil. „Für mich ist das der Einstieg in eine Erweiterung unseres Angebots.“ Der Intendant kann sich sogar vorstellen, dass für das VR-Format bald eigene Stücke geschrieben oder Texte neu entdeckt werden, die eine zweite virtuelle Ebene brauchen. Tombeil denkt bei VR aber nicht nur an das Theater, sondern spartenübergreifend. Auch das Essener Aalto Ballett sei schon dabei, ein Stück für die virtuelle Präsentation zu produzieren.
Auch Schüler und Leute aus dem Gaming-Bereich sollen angesprochen werden
Infos zur Vorstellung
Interessenten können die VR-Vorstellungen „Der Reichsbürger (360°)“ ab dem 3. Mai im Webshop der Theater und Philharmonie Essen buchen. Premiere ist am 6. Mai.
Kosten für eine Buchung inkl. Lieferung und Abholung der VR-Brille (ausschließlich) im Stadtraum von Essen: 25 Euro.
Mehr Infos, Vorstellungstermine und Buchungen unter www.schauspiel-essen.de
Der bundesweite Vorreiter, das Staatstheater Augsburg, präsentiert seine VR-Produktionen mittlerweile im ganzen Land. Wer schon eine entsprechende Brille besitzt, kann über einen Code ausgewählte Produktionen zu Hause streamen. In Augsburg wendet sich das Angebot auch speziell an Schüler. In Essen habe man ebenfalls schon Anfragen von Schulklassen, berichtet Tombeil. Dafür sollen aber neue Stoffe entwickelt werden. „Toll wäre, wenn es uns gelänge, über VR auch Leute aus dem Gaming-Bereich fürs Theater zu gewinnen.“