Essen. Früher sorgte Lothar Dohr für Gänsehautstimmung bei RWE an der Hafenstraße. Der Kultfan hofft, dass Zuschauer bald wieder ins Stadion dürfen.
Es ist bizarr. Rot-Weiss Essen spielt eine grandiose Saison und auf den Tribünen ist es mucksmäuschenstill, weil wegen Corona keine Zuschauer ins Stadion dürfen. Auch früher gab es Zeiten, da konnte man an der Hafenstraße eine Stecknadel fallen hören. Obwohl damals Tausende dabei waren. Immer dann, wenn Lothar auf die Stange stieg.
Andächtig lauschte die Menge seinem berüchtigten Schlachtgesang: „Wer ist der Schreck vom Niederrhein? - Wer sammelt alle Punkte ein? - Wer spielt den Gegner an die Wand? - Wer schießt Tore am laufenden Band?“ Auf jede Frage antworteten tausende von Kehlen: „Nur der RWE!“ Auch von den gegnerischen Fans gab es dafür respektvoll Applaus. Lothar Dohr auf dem Wellenbrecher, das war ein Erlebnis damals im altehrwürdigen Georg-Melches-Stadion.
RWE-Furore: Fernsehsender erinnern sich an den „Schreck vom Niederrhein“
Als RWE jüngst im DFB-Pokal vor großer Fernsehkulisse für Furore sorgt, erinnern sich die Sender an die alten Zeiten – und an den „Schreck vom Niederrhein“. Der WDR klopft an, der Bezahlsender Sky bittet Dohr zum Interview. Auch in der Stadt ist RWE Gesprächsthema. Beim Arzt wünschen sie Dohr viel Glück. Als würde der 61-Jährige am Abend im Viertelfinale gegen Kiel selbst noch einmal alles reinwerfen, so wie früher.
32 Jahre gab Lothar Dohr – von Mutter Natur ausgestattet mit einem Stimmorgan, dass die Schreihälse vom Hamburger Fischmarkt vor Neid erblassen ließe – den Einpeitscher bei RWE. Rund um die Hafenstraße ist Dohr Kult. Sein Foto hängt im Deutschen Fußballmuseum. Ein wandgroßes Bild schmückt das Foyer im Stadion Essen: Lothar mit erhobener Faust auf den Schultern von RWE-Fans in der Westkurve.
In den 1970er und 1980er Jahren waren Fans von der Westkurve berühmt und berüchtigt
Die war berühmt und berüchtigt in den 1970er und 1980er Jahren, als das Foto entstand. „Mehr berüchtigt, als berühmt“, sagt Lothar Dohr. Aber das galt damals nicht nur für die Essener Fans, denen der WDR in den 1970er Jahren einen Dokumentarfilm widmete. „Wir kamen im Bochum an. Wat haben wir gekriegt?“, fragt ein jugendlicher RWE-Fan und gibt selbst die Antwort: „Auf die Augen.“ Auch Lothar Dohr ist in der Doku zu sehen. Nein, der „Schreck vom Niederrhein“ war kein Kind von Traurigkeit.
Als die Westkurve Anfang der 1990er Jahre abgerissen wird, ziehen Dohr und die Hartgesottenen um auf die Gegengerade. Im Stadion verlieren sich zu dieser Zeit oft nur einige wenige tausend Zuschauer. Die Stehtribüne ist überdacht, was wie ein Verstärker wirkt.
Lothar Dohr hat seinen festen Platz in Block K und ein feines Gespür dafür, wann die Mannschaft seine Unterstützung braucht. „Wenn es gut lief bei einem Spiel, bin ich auch zwei oder drei Mal auf die Stange“, erinnert er sich. Meistens lief es schlecht.
Für Lothar Dohr wird die Rolle als „Schreck vom Niederrhein“ zur Gratwanderung
Mit den Jahren fällt ihm seine Rolle immer schwerer. Es ist ihm anzusehen, wenn er auf den Wellenbrecher steigt. Nach einem Bandscheibenvorfall schmerzt das Kreuz, in den Knochen zwickt die Arthrose, dazu der hohe Blutdruck. Und ein, zwei Bier, die Dohr sich während des Spiels gönnt, machen es auch nicht leichter.
„Lothar auf die Stange“, rufen die Fans, was Dohr gar nicht mag. Er tut es trotzdem. So mancher begleitet seine Auftritte mit einem Schmunzeln. Der Balanceakt auf dem Wellenbrecher wird für den „Schreck vom Niederrhein“ zunehmend zu einer Gratwanderung zwischen Kult und Clownerie.
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„Die Stimme hat noch mitgemacht, aber der Kreislauf nicht“, erzählt Dohr. „Nach der zweiten Strophe habe ich gemerkt: Mensch, dir wird schwindelig.“ Irgendwann denkt er sich: „Entweder ich mache es richtig oder gar nicht.“ Als RWE zum Auswärtsspiel bei der zweiten Mannschaft des HSV in Hamburg antritt, stimmt Lothar Dohr zum letzten Mal seinen Schlachtruf an – und steigt für immer von der Stange.
2002 machte Rot-Weiss Essen Lothar Dohr zum Fanbeauftragten
Heute ist Dohr Fanbeauftragter. 2002 hat der Verein ihn eingestellt; nach einem Platzsturm von RWE-Fans in Münster. Essen hatte das Spiel zwar gewonnen, den Aufstieg in die 2. Bundesliga aber verpasst, weil Eintracht Braunschweig im Parallelspiel doch noch in der Nachspielzeit der Siegtreffer gelang. Als der Stadionsprecher in Münster der Eintracht zum Aufstieg gratuliert, gibt es für die RWE-Fans kein Halten mehr.
Lothar Dohr kennt sich aus in der Fanszene. Im Georg-Melches-Stadion hat er sein Büro gleich neben der Vereinsgaststätte. In den 60er Jahren wohnte dort „Ente Lippens“. Aus der Wohnung wird ein Fan-Treff.
Mit dem neuen Stadion Stadion tut sich Dohr noch immer schwer. Die Atmosphäre sei eben eine ganz besondere gewesen im alten Stadion, aus dem Dohr nicht nur Wimpel herübergerettet hat, sondern den Konferenztisch des alten Melches samt zwölf Stühlen. Für die Möbel hat er eine Garage angemietet.
Im Stadion Essen hat der Lothar Dohr keinen festen Platz mehr
Fans treffen sich heute in der „Melches-Hütte“ in Bergeborbeck. Lothar Dohr steht dort hinter der Theke. Zu Auswärtsspielen organisiert er Fahrten im „Lothar Bus“. Weil der Verein sparen musste, arbeitet er seit 2007 als Fanbeauftragter auf 400-Euro-Basis. Im Stadion Essen hat er keinen festen Platz mehr, sondern lässt sich auf den Tribünen mal hier, mal dort sehen. Das war vor Corona.
Einmal, als noch 300 Zuschauer hineindurften, war Lothar Dohr dabei. „Aber Fußball ohne Stimmung – das ist nichts für mich.“ Seitdem verfolgt er die Spiele per Livestream am Bildschirm. Die Übertragung ist manchmal zeitversetzt. Dohr wohnt nur einen Steinwurf vom Stadion entfernt. Dann hört er, wenn sie im Stadion vom Band „Adiole“ abspielen, weil RWE ein Tor geschossen hat, bevor es im Fernsehen zu sehen ist.
Es sind merkwürdige Zeiten. Lothar Dohr hofft, dass Zuschauer vielleicht noch in dieser Saison wieder ins Stadion dürfen. Einen „Schreck vom Niederrhein“ aber gibt nicht mehr in der Fanszene. Einer hat sich mal getraut. Es blieb beim Versuch. Würde Lothar noch mal auf die Stange steigen? Dohr schmunzelt. Den Hype um seine Person habe er sowieso nie verstanden. Und wenn es um den Aufstieg in die 1. Liga ginge? „Einmal – dafür würde meine Stimme noch reichen.“