Essen. Blutige Hände, Gewichtszunahme und Angst: Essener Ärzte schlagen Alarm. Der Lockdown gefährdet die Gesundheit der Jüngsten – mit fatalen Folgen.
In einem Brandbrief an Oberbürgermeister Thomas Kufen und die Politik weisen Essener Kinderärzte auf die gravierenden Folgen für die geistige und körperliche Gesundheit von Kindern und Heranwachsenden durch den anhaltenden Lockdown hin. „Kinder und Jugendliche leiden“, heißt es in dem von fünf Kinderärzten unterzeichneten Schreiben. Ihre Erfahrungen stünden stellvertretend für die von mehr als 44 Kinder- und Jugendmedizinern in der ganzen Stadt.
Noch vor einem Jahr seien es in seiner Praxis nur vereinzelte Fälle gewesen, berichtet Tobias Gregor, Kinderarzt aus Werden und einer der Unterzeichner. Vorstellig geworden seien Kinder mit rauen und sogar blutigen Händen – hervorgerufen durch exzessives Waschen aus Sorge, sie könnten sich andernfalls mit dem Coronavirus infizieren. Gregor spricht von einem regelrechten Waschzwang.
Mittlerweile hätten er und seine Kollegen es mit verschiedensten Krankheitsbildern zu tun. „In unserem täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen sehen wir mit großer Sorge, insbesondere seit dem zweiten Lockdown, eine massive Verschlechterung der psychischen und körperlichen Gesundheit unserer Patienten“, heißt es in dem Brief, mit dem die Mediziner Kindern und Jugendliche eine Stimme geben wollen.
„Wir haben das Gefühl, dass Kinder und Jugendliche nicht genügend im Fokus“, sagt Ludwig Ludwig Kleine-Seuken, Obmann der Essener Kinderärzte. Dies wollten die Verfasser ändern.
Kinder und Jugendliche leiden – ausgelöst durch Corona – unter verschiedenen Ängsten
Statt typischer Infektionen behandelten die Ärzte seit Monaten diffuse psychosomatische Beschwerden. Kinder und Heranwachsende litten unter der Angst, sie könnten Eltern oder Großeltern anstecken, unter der Sorge, dass Corona nie wieder vorbei geht, oder dass sie die Schule nicht schaffen. Auch komme es vor, dass Kinder mit schwerwiegenden Diagnosen wie Diabetes oder bakteriellen Infektionen viel zu spät vorgestellt werden – aus Sorge der Eltern in die Praxis zu kommen.
Durch den Lockdown können die Kinder und Jugendliche weder Sport treiben, noch ihren Hobbys nachgehen oder soziale Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen. Viele seien darüber frustriert. Vor allem Jugendliche bewegten sich aktuell in einem „luftleeren Raum“. Das hat nach Beobachtung der Mediziner gravierende Folgen.
Patienten leiden unter Konzentrationsstörungen durch exzessives Computerspielen
So sei die Zahl derer, die durch exzessiven Konsum von Computerspielen Schäden erleiden, in die Höhe geschnellt. „Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang: Je mehr Medienkonsum, desto unkonzentrierter wird man“, so Gregor. Das beeinflusse auch die schulischen Leistungen. Der Kinderarzt berichtet von einer Studie, wonach mehr als drei Stunden täglich die Leistung in der Schule um eine Note verschlechtere. Nicht auszuschließen sei, dass sich das Ausmaß des Problems erst mit Verspätung zeige, wenn die Schule wieder im Normalbetrieb läuft.
Zunehmend beobachten Gregor und seine Kollegen auch körperliche Auffälligkeiten bei ihren Patienten. „Wir sehen Jugendliche, die sich uns mit nahezu abgestorbenen Händen, die schmerzen, geschwollen und blaurot angelaufen sind vorstellen.“ Folgen des exzessiven Spielens am Computer.
Unübersehbar sei auch eine generelle Gewichtszunahme als Folge von gestörtem Essverhalten, mangelnder Ernährung und fehlenden körperlichen Aktivitäten. Tobias Gregor rät Eltern, mit den Kindern zumindest spazieren zu gehen, um der Enge der Wohnung zu entfliehen.
Gravierender noch seien Störungen der Fein- und Grobmotorik. „Neben psychischen und physischen Auffälligkeiten beobachten wir auch sprachliche Entwicklungsstörungen“, heißt es. Mit letzteren hat es Ludwig Kleine-Seuken nach eigenen Worten in seiner Praxis in Katernberg häufig zu tun.
Erste Reaktionen auf den Brief der Kinderärzte
Die Essener Kinderärzte haben ihren Brief an Oberbürgermeister Thomas Kufen, an Gesundheitsdezernent Peter Renzel und an weitere Mitglieder des Verwaltungsvorstandes der Stadt Essen geschickt. Auch den Ratsfraktionen sei das Schreiben zugegangen.
In einer erste Reaktion habe OB Kufen den Verfassern angeboten, ihre Erfahrungen in einem persönlichen Gespräch zu schildern. Auch aus Reihen der Politik gebe es Interesse, sich auszutauschen.
Eltern seien nicht immer der Lage, ihre Kinder zu unterstützen, um Defizite auszugleichen. Sei es, weil sie selbst arbeiten müssten, oder weil sie schlicht überfordert seien.
Die Kinderärzte fordern nicht ein sofortiges Ende des Lockdowns. Aber: „Wir fürchten, dass Kinder und Jugendliche hintenrüberfallen“, sagt Tobias Gregor. Die Unterzeichner des Briefes sind sind sich einig: „Die Fortsetzung des Lockdowns bezahlen wir mit einem hohen Preis.“