Essen-Rüttenscheid. Die Siechenhauskapelle stammt aus Zeiten, in denen Pandemien wie Aussatz wüteten. Jetzt ist das Haus als Ort des Gebets wieder stark gefragt.

Corona heißt die Pandemie der Gegenwart. Dass auch vor einem halben Jahrtausend ansteckende Krankheiten wie Aussatz wüteten, davon legt ein Gebäude an der Rüttenscheider Straße ein stummes Zeugnis ab: die Siechenhauskapelle, die gerade auch in Corona-Zeiten gefragt ist.

Im Siechenhaus war Platz für die Erkrankten

Wenn man sich heute das Gebäudeensemble anschaut, die ein wenig zwergenhaft wirkende Kapelle mitten zwischen dem hohen Arosa-Hotel und den mehrstöckigen Wohn- und Geschäftshäusern, fällt die Vorstellung schwer, dass es hier einmal viel freies Land gab. Doch die Bauernschaft Rüttenscheid hatte einst nur wenige Einwohner und bot mit der Lage vor den Toren der Stadt Essen offensichtlich das geeignete Gelände, ein Siechenhaus zu errichten. Um sich vor Menschen zu schützen, die an Lepra, auch Aussatz genannt, erkrankt waren, wurde ihnen ein solcher Ort mit großer Distanz zur übrigen Bevölkerung zugewiesen. Abstandsgebote gab es auch in damaliger Zeit und das von einem erheblichen Ausmaß.

In einer Ära, in der Gesellschaft, Religion und Kirche untrennbar miteinander verbunden waren, gehörte zwangsläufig auch eine Gebetsstätte zu einem solchen Ort, an dem Kranke versorgt wurden. In den Quellen heißt es übrigens, dass das Siechenhaus aus einem großen Hofraum bestand, Garten, Wälder und sogar ein Fischteich dazugehörten. Während von dem Anwesen aber heute nur noch die Annalen wissen, hat sich die Kapelle behauptet und diente einen Zeitraum lang auch den Landwirten als Kirche. Mit Platz für 30, höchstens 40 Personen lässt sich erahnen, dass die Bebauung von Rüttenscheid noch in den Kinderschuhen steckte.

Seit Jahrzehnten schon kümmert sich das Küsterehepaar Hebenstreit um die Kapelle

Während längst St. Ludgerus und Martin sowie Andreas die Rollen von Gemeindekirchen übernommen haben, kommt der Kapelle eine ganz eigene Bedeutung zu. „Die Menschen suchen und finden hier Ruhe vom geschäftigen Treiben auf Rüttenscheids Einkaufsmeile“, sagt Gisela Hebenstreit (75), die sich mit ihrem Mann Dieter (80) seit 20 Jahren um die Pflege des Gotteshauses kümmert.

Es bedarf nur weniger Schritte, um von der Rü in das Innere der Kapelle zu gelangen. Coronabedingt darf jeweils nur ein Gast sich dort aufhalten. Viele Besucher zünden eine Kerze an, erzählt Hebenstreit, „andere verweilen auch auf einer der Sitzbänke“. Manchmal habe sie auch schon auf dem Altar Zettel mit Namen von Menschen gefunden, derer man gedenken solle. Einige Gäste kenne man im Laufe der Zeit. „Es gibt Leute, die hier sind“.

Die Rüttenscheiderin weiß aber auch von Gästen, die wohl eher zufällig beim Einkauf die Kapelle entdecken und sich eine kleine Auszeit gönnen. Gerade auch in Corona-Zeiten habe eine solche Stätte auch ihren Stellenwert, unterstreicht Domkapitular Hans-Werner Thönnes, der sich im Auftrag des Bistums um die Siechenhauskapelle sorgt, in deren Besitz sie sich heute befindet.

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Kapelle hat für die heimische Bevölkerung auch heute noch einen hohen Stellenwert

Dass das altehrwürdige Gebäude im Bewusstsein der Bevölkerung fest verankert ist, das lasse sich unter anderem an einer Begebenheit ablesen, die wenige Jahre zurückliege, so Thönnes. Damals, so erzählt er, hätten Unbekannte das Kreuz an der Außenmauer massiv beschädigt. Sofort habe sich ein Bürger gemeldet, der für die Beseitigung des Schadens habe aufkommen wollen.

Bei der Tat habe es sich zum Glück aber um einen Einzelfall gehandelt, die Kapelle sei im Laufe der letzten Jahre weitestgehend unversehrt geblieben. Dazu trägt wohl auch bei, dass - wenn nicht gerade ein Lockdown gilt - Mitarbeiterinnen des gegenüberliegenden Cafés Glanzstück ein wachsames Auge auf die Kapelle werfen und im Fall der Fälle Kontaktdaten von Thönnes und Hebenstreits haben.

Eigentlich gibt es jedes Jahr ein Kapellenfest

Umgekehrt hält das Ehepaar auch das Restaurant im Blick. Zu den Aufgaben der beiden Rüttenscheider gehört es, stets nach dem Rechten zu sehen. Kleinere oder auch mal größere Reparaturen übernimmt Dieter Hebenstreit selbst, war er doch einst Haustechniker der Sparkasse, in deren Gebäude die Eheleute bis heute wohnen. „Direkt gegenüber“.

Da sind dann auch die Wege zum Auf- und Abschließen der Kirche sehr kurz. Während er mehr das Technische und Handwerkliche im Visier hat, kümmert sich seine Frau um die Blumen und das Kerzengeld. Die gespendeten Beiträge für die Kerzen werden ans Bistum weitergeleitet.

Üblicherweise gehört zu den Aufgaben von Hebenstreits, das einmal im Jahr stattfindende Kapellenfest vorzubereiten. Doch dieses Jahr, so Hans-Werner Thönnes, habe Corona die Pläne durchkreuzt. Nun müsse man abwarten und hoffe auf eine Neuauflage in 2021.

Abstand halten galt auch damals als bester Schutz Autorin: Lena Filzen

Während die Siechenhauskapelle bis heute erhalten geblieben ist, erfolgte der Abriss des Siechenhauses, also der Unterkunft für die Erkrankten, schon vor weit über 100 Jahren. Entstanden war das Haus bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts und zwar maßgeblich für Menschen, die an Lepra litten. In den Jahrzehnten der Pest wurde das Anwesen genutzt, um Pestkranke zu isolieren. Während es für sie meistens keine Rettung gab, konnten Lepröse meist noch Jahrzehnte mit der Krankheit leben. Eine Aussicht auf Heilung bestand allerdings kaum. Aufgrund der Ansteckungsgefahr wurden die Häuser als sichere Aufenthaltsorte für die Kranken angesehen. Abstand halten galt auch damals als beste Prävention.

Um andere Menschen vor ihrer Krankheit zu warnen, waren Leprakranke verpflichtet, bestimmte Kleidung zu tragen und Klappern mit sich zu führen. Sie durften nicht reisen, da eine Ausbreitung der Krankheit befürchtet wurde. Zudem galt Aussatz als vererbbar, weswegen Verlobungen einseitig gelöst werden konnten und Kinder von Erkrankten oft mit ins Siechenhaus zogen. Dort kamen vielfach auch Menschen mit anderen Hautkrankheiten als Lepra unter, bei ihnen hatte man fälschlicherweise Aussatz diagnostiziert. Ein Ende fand dieser Irrweg erst, als sich die medizinischen Fakultäten um Leprauntersuchungen kümmerten.

Das Essener Siechenhaus bestand, wie Urkunden aus dem Jahr 1476 belegen, aus einem Wohnhaus mit Hof, zwei Gärten und einem größeren Stück Ackerland. Später kamen noch der Leprosenbusch (ein kleines Waldstück) und der Leprosenteich hinzu.

Kranke waren einst auf Spenden aus der Gemeinde angewiesen

Die Verwaltung und Bewirtschaftung des Siechenhauses und seines Hofs übernahmen die Kranken, wenn möglich, selbst. Jedoch waren sie meist auf Spenden der Gemeinde angewiesen. Die Seelsorge durch einen Priester wurde ab 1472 von der Essener Familie Varnhorst, später durch deren verschwägerte Familie Mittweg als eine Art Stiftung gesichert. Beide Familien finanzierten mehrere Renovierungen der Kapelle über die nächsten Jahrhunderte.

Bei der Aufnahme in das Siechenhaus bestand für die Aussätzigen die Pflicht, eigene Bettwäsche, Geschirr und Kleidung sowie Erspartes mitzubringen. Die Habseligkeiten sollten nach dem Versterben dem Siechenhaus vermacht werden. Durch diese Regel, sowie Spenden und Schenkungen, konnten arme Erkrankte mitversorgt werden. Fremde und Menschen aus anderen Gemeinden wurden in der Regel nicht aufgenommen.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung der Krankheit zeigte Wirkung über die Jahrhunderte: Für das Siechenhaus sind 1544 noch sieben Kranke als Bewohner vermerkt. 100 Jahre später lebte dort nur noch ein Erkrankter. Später wandelte sich der Zweck des Siechenhauses, es diente als Ort, um arme oder alte Menschen unterzubringen und wurde auch als Krankenstation genutzt.

Heute dem Essener Dom zugehörig

Am deutschen Niederrhein schloss das letzte Siechenhaus Anfang des 18. Jahrhunderts. Das Siechenhaus in Essen wurde im 19. Jahrhundert abgerissen. Mit dem Auflösen des Äbtissinnenstifts wurde die Stiftung der Kapelle zunächst an die Johannispfarrei, später an die 1843 gegründeten Barmherzigen Schwestern von der hl. Elisabeth übergeben. Heute gehört die Kapelle zum Essener Dom.

Zur Autorin:

Lena Filzen ist Studierende des 2-Fach-Masterstudiengangs Geschichtspraxis
interkulturell der Uni Duisburg-Essen. Weite Information zu diesem
neuen Studiengang gibt es auf der Homepage des Historischen
Instituts der Universität.

Wichtige Daten zur Siechenhauskapelle:

Errichtet wurde sie zwischen 1426 und 1445 .

Ein Priester war seinerzeit in Diensten, um sich seelsorgerisch um die Kranken zu kümmern .

Seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Kirche mehrfach restauriert .

Den neuen Altar hat der Wiedenbrücker Künstler Johannes Niemeyer geschaffen, der unter anderem für das Altarkreuz und den Standleuchter Überreste von im Krieg zerstörten Objekten aus der Siechenhauskapelle verwendet hat.

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