Essen. Mit dem Satz, Altenessen am besten zu verlassen, hat ein FDP-Mann einen Nerv getroffen. Die Politik muss bei allem Realismus mehr tun als bisher.
Manchmal kann ein einziger Satz, im vorliegenden Fall eher beiläufig geschrieben, eine große Wirkung erzielen. Mit der Aufforderung, Altenessen doch am besten zu verlassen, hat der örtlich gut vernetzte FDP-Mann und frühere Christdemokrat Thomas Spilker nicht nur offensichtlich einen Nerv getroffen. Er hat indirekt auch die verbreitete politische Übereinkunft aufgekündigt, wonach man mit (ohnehin nie ausreichenden) öffentlichen Mitteln für Bildung, Sozialarbeit und allerlei Gutgemeintes die Dinge schon irgendwie hinbiegen kann.
Die Mischung aus Fatalismus und Aggressivität wühlt den Norden auf
Der Glaube daran erodiert gerade im Essener Norden auf breiter Front. In einer Mischung aus Fatalismus und Aggressivität bestreiten viele sogar, dass die Stadtpolitik sich überhaupt interessiert, mancher macht aus dem Gefühl, im Norden sei man abgehängt, geradezu eine Obsession. Oft geht das einher mit unrealistischen Erwartungen. Wenn Oberbürgermeister Thomas Kufen einräumt, dass die Kommunalpolitik keine Wandlungswunder vollbringen kann , dann ist das ein Fakt – Enttäuschungen lassen sich so vorbeugen. Allemal schlimmer sind doch jene, die die Backen aufblasen und dann wenig bis nichts schaffen.
Das heißt aber nicht, dass die Stadtpolitik nicht ambitionierter werden kann, um der Stimmung etwas entgegenzusetzen und dem Norden mehr Hoffnung zu geben. Die „Gemeinsam sind wir stark“-Rhetorik, die besonders Stadtdirektor Peter Renzel gerne bemüht, reicht da einfach nicht. Verbrauchen wird sich auch die derzeitige Neigung, dem Krankenhauskonzern Contilia alle Schuld zu geben. Sicher haben die Krankenhaus-Schließungen viel zur wachsenden Verbitterung im Norden beigetragen, verständlich, dass man dies im Rathaus betont. Aber die Probleme sind viel älter.
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Als sich die SPD im Norden während der Flüchtlingskrise 2015/16 und in den Jahren danach fast zerlegte, war dies ein eigentlich unüberhörbares Warnsignal. Bis heute neigt die Politik jedoch unverdrossen zum Schönreden, Klartext gibt es allenfalls, wenn die Türen zu sind. Ein Ur-Altenessener wie der frühere SPD-Vize Karlheinz Endruschat hat das irgendwann nicht mehr ausgehalten und ist ausgestiegen.
Vor allem Familien aus der bürgerlichen Mitte sehen zu, dass sie wegkommen
Sicherlich ist Aufgeben keine Lösung, natürlich wäre es ebenso falsch wie übertrieben, vor den Problemen zu flüchten und Altenessen nun massenhaft zu verlassen. In Wahrheit ist Spilkers Satz ja eher ein Hilferuf als eine Handlungsaufforderung. Und es stimmt ja auch, dass es im Norden angenehme Viertel und gute Nachbarschaften gibt. Dennoch ist schon lange eine stille Abstimmung mit den Füßen im Gang. [In unserem lokalen Newsletter berichten wir jeden Abend aus Essen. Den Essen-Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen.]
Viele aus der bürgerlichen Mitte, vor allem Familien mit Kindern haben sich längst eine Zukunft anderswo gesucht, sofern sie es sich leisten konnten. Wenn die restlichen Engagierten – und dazu gehört auch ein Thomas Spilker – ernsthaft überlegen sollten aufzugeben, wird es gefährlich .
In Frankreich etwa kann man besichtigen, was geschieht, wenn Stadtgesellschaften sich radikal trennen. Soweit sollte es hier nicht kommen. Wie schwer das wird, ist auch OB Thomas Kufen klar, wenn er zwar vor Resignation warnt, aber auch vor der Illusion, man könne innerhalb einer Stadt gewachsene, sich durch ungeregelte Migration weiter vertiefende Unterschiede einebnen. So wie es aussieht, wäre schon eine Reduzierung des Tempos beim Auseinanderdriften ein großer Erfolg.