Essen-Rellinghausen/Rüttenscheid. Die Bürgerschaft Rellinghausen lässt ein Essener Adressbuch von 1937/38 aufarbeiten. Für die Buchbinderin ist das auch inhaltlich spannend.

Ein besonderes Buch restauriert Buchbinderin Juliane Kühne (56) derzeit in ihrer Werkstatt in Essen-Rüttenscheid: das Essener Adressbuch von 1937/38. Es soll nach der Überarbeitung im Archiv der Bürgerschaft Rellinghausen-Stadtwald aufbewahrt werden und für Recherchen zur Verfügung stehen. Die Buchbinderin hat jedenfalls sofort nachgelesen, wer früher dort wohnte, wo sie heute arbeitet.

„Viele werden ihre eigene Adresse nachschlagen und ein bisschen in der Vergangenheit stöbern“, vermutet Johannes Stoll von der Bürgerschaft Rellinghausen-Stadtwald. Er hat das Buch zur Restaurierung gebracht, ohne genau zu wissen, woher es stammt. „Das hat jemand vor etwa einem Jahr bei der Bürgerschaft abgegeben.“

Adressbücher waren nach Namen und nach Straßen geordnet

Adressbücher, die früher vom Essener Adressbuchverlag regelmäßig neu aufgelegt wurden, gibt es heute nicht mehr. In dem Exemplar von 1937/38 lassen sich die Essener Einwohner alphabetisch geordnet finden. Im zweiten Teil gibt es eine Auflistung der Straßen und Häuser mit ihren jeweiligen Bewohnern.

Teil drei besteht aus einem Branchenverzeichnis mit Gewerbetreibenden, Ärzten und Anwälten. Teil vier listet Behörden, Kirchen, Schulen, öffentliche Einrichtungen, Vereine, Zeitungen auf – und die örtlichen Vertreter der NSDAP. „Für 1937/38 war das selbstverständlich. Aus heutiger Sicht ist das durchaus spannend, gibt das Buch doch Aufschluss darüber, wer welches Parteiamt innehatte, was ja viele später nicht mehr wahrhaben wollten“, sagt Johannes Stoll. Auch Straßen, die nach führenden Nationalsozialisten benannt waren, sind in dem rund 1000 Seiten starken Adressbuch zu finden.

Vereine und Institutionen findet man in einem Teil des Adressbuchs aus den 1930er Jahren.
Vereine und Institutionen findet man in einem Teil des Adressbuchs aus den 1930er Jahren. © Katrin Böcker / FUNKE Foto Services

Gerade für Historiker oder Hobbyhistoriker seien all diese Angaben durchaus aufschlussreich und spiegelten ein Kapitel der Stadtgeschichte. Schon deshalb sei das Buch auf jeden Fall erhaltenswert.

Die Mehrzahl der aufgelisteten Namen sind Männernamen. „Damals wurde immer der Haushaltsvorstand eingetragen, und das waren in der Regel Männer“, erklärt Johannes Stoll. Über die Essener erfährt man einiges, zum Beispiel ihre Berufe. „Hinter den Namen steht Schmied, Kaufmann, Hilfsarbeiter oder ähnliches“, hat Juliane Kühne von der Buchbinderei Löber beim Durchblättern des Buchs entdeckt.

Noch ist das Buch in einem schlechten Zustand

Für sie sei die Arbeit an dem vergilbten, reichlich zerfledderten Schriftstück nicht nur unter beruflichen Aspekten interessant. Sie habe auch gleich nachgeschaut, wer damals in dem Haus an der Sibyllastraße wohnte, in dem sich heute ihre Werkstatt befinde. Die Buchbinderei, die sie seit 22 Jahren führe, sei von Wilhelm Löber an der Kastanienallee in der Innenstadt gegründet worden und dann später von seinem Sohn Friedhelm übernommen worden.

Auch das Rahmen von Bildern gehört zum Geschäft

Nicht nur das Einbinden von Büchern, sondern auch das Rahmen von Bildern gehört zu den Aufgaben von Buchbinderin Juliane Kühne. Nur wenige Berufsgruppen, darunter eben die Buchbinder, dürften rahmen, weil sie über das nötige Fachwissen verfügten.

Großaufträge von Firmen, die früher oft viele Bilder für ihre Geschäftsräume rahmen ließen, gebe es kaum noch, erklärt Ehemann Peter Puk. Auch der private Bildergeschmack habe sich verändert. Drucke und Stiche seien aus der Mode gekommen, heute stünden Originale hoch im Kurs.

Das Haus, in dem sie sich heute befinde, sei allerdings erst Ende der 1950er Jahre gebaut worden. „Hier war eine Bombenlücke, das Vorgängerhaus war im Zweiten Weltkrieg zerstört worden“, sagt Juliane Kühne. Das Gebäude, in dem sie jetzt arbeite, sei für eine Wäscherei und eben die Buchbinderei Löber gebaut worden.

Buchbinderin Juliane Kühne bearbeitet den Einband des alten Adressbuches.
Buchbinderin Juliane Kühne bearbeitet den Einband des alten Adressbuches. © Katrin Böcker / FUNKE Foto Services

„In dem Vorgängergebäude an der Sibyllastraße wohnten laut Adressbuch vier Parteien, Diplom-Ingenieure, ein Kaufmann und ein Studienrat“, hat Juliane Kühne nachgelesen. Wenn das Buch wieder hergerichtet sei, werde es wohl eine Veranstaltung im Blücherturm geben, bei der die Bürger auch einmal einen Blick in das Adressbuch werfen und Dinge nachschlagen könnten, die sie interessierten, meint Johannes Stoll von der Bürgerschaft. „Heute wäre so eine Veröffentlichung sicherlich nicht mehr mit dem Datenschutz vereinbar. Früher waren die Leute wohl eher ärgerlich, wenn sie nicht im Adressbuch standen“, mutmaßt Stoll.

Seiten des Adressbuchs müssen neu befestigt werden

In den kommenden Wochen will sich Buchbindemeisterin Juliane Kühne intensiv dem Band widmen. „Die Wölbung muss umgekehrt, etliche Seiten müssen befestigt werden“, sagt sie. Die Einbandpappe sei ziemlich kaputt, das Buch insgesamt dreckig. Mit Hilfe von sehr feinem, aber robusten Japanpapier wolle sie dafür sorgen, dass man in dem Buch wenigstens wieder blättern könne.

Wer Juliane Kühne bei der Arbeit zuschaut, bekommt ein Gefühl für ihr altes Handwerk. Nach dem Abitur hatte die Mülheimerin eine Ausbildung zur Buchbinderin absolviert und zusätzlich in Portugal die Handvergoldung erlernt. Zwischenzeitlich war sie als Ausbilderin für Langzeitarbeitslose tätig. Auf der Meisterschule lernte sie ihren Mann Peter Puk (65), Industriemeister Druck, kennen. Das Paar arbeitet gemeinsam in der Werkstatt an der Sibyllastraße.

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In Essen gibt es nur noch sehr wenige Buchbindereien

Die Zahl der Buchbindereien sei stark geschrumpft, aber auch im digitalen Zeitalter gebe es noch zu tun, müssten Bücher restauriert, wissenschaftliche Arbeiten oder Fachzeitschriften gebunden, Bilder gerahmt werden. „Privatleute kommen oft mit Bibeln oder Kochbüchern, die sie überarbeiten lassen wollen“, erzählt die Fachfrau. Auch Fotobücher, Gästebücher, Gedenkbücher oder ähnliches bearbeite sie. Die Auftragsarbeiten seien nur die eine Seite des Berufs. „Beim freien Arbeiten kann ich mich dann kreativ austoben.“

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