Essen. Abstand wahren, statt Austausch zu suchen: In diesem Wahlkampf finden Parteien und Wähler weniger denn je zusammen. Langeweile ist programmiert.
Den Kandidaten haben sie geklont, gleich 250 Mal: Oliver Kern als lebensgroßer Pappkamerad, wie weiland beim „Starschnitt“ der Pubertäts-Postille Bravo. So kann der OB-Bewerber der Sozialdemokraten zwischen Karnap und Kettwig risikolos Gesicht zeigen, ohne dass ihn wer anraunzt, er solle doch gefälligst Abstand halten und sie nicht anquatschen. Denn das, seufzen Wahlkämpfer gleich welcher Partei, passiert ihnen – Corona sei Dank – derzeit alle Nase lang.
Sechzehn Kommunalwahlen hat diese Stadt schon gesehen, aber einen so kuriosen Wahlkampf vermutlich noch nie: Statt auf die Menschen zuzugehen, heißt vielerorts die Devise: kommen lassen. Statt der Laufkundschaft an Infoständen die üblichen Luftballons, Einkaufs-Chips oder Kinder-Quartetts in die Hand zu drücken, liegen die „Give-aways“ als „Take-aways“ zur Selbstbedienung aus.
Angebote gibt es, aber wohin mit der Prominenz aus Land und Bund?
Großveranstaltungen? Fehlanzeige. Das grämt vor allem die CDU, die nach den Worten ihres Parteigeschäftsführers Thomas Frank „eine Menge Landes- und Bundes-Prominenz hätte aufbieten
können“. Auch die traditionelle CDU-Meile in der Fußgängerzone der Innenstadt, mit der man sonst zum Abschluss kurz vor dem Wahltag noch einmal personell geballt Flagge zeigt, fällt anno 2020 aus.
Die Genossen auf der anderen Seite wollen ein Regierungsmitglied nach Essen holen, aber noch weiß SPD-Geschäftsführerin Yvonne Hartig nicht so recht, wie man die Sache organisieren soll, damit sie auch Aufmerksamkeit beschert. Vielleicht so wie bei den Grünen? Die laden für den 4. September zum Treffen mit ihrem Bundesvorsitzenden Robert Habeck voraussichtlich in die Kreuzeskirche, eine Woche zuvor kommt Claudia Roth.
Der Wahlkampf auf Distanz wird nicht preiswerter, sondern eher teurer als sonst üblich
Eher unwahrscheinlich, dass man dort viel mehr Gäste begrüßen kann als die FDP, die Ende August für eine Veranstaltung zur Gründer-Problematik den NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart und rund 50 Leute zu Gast hat. Veranstaltungen dieser Größenordnung bedienen dann wohl eher die Parteiseele, als dass sie Breitenwirkung für die Stimmabgabe auslösen.
„Ist halt alles sehr schwierig“, räumt FDP-Fraktionschef Hans-Peter Schöneweiß achselzuckend ein – und tritt zugleich der Annahme entgegen, damit würde immerhin die Wahlkampf-Kasse geschont: „Es wird eher teurer als sonst“, sagt er, „weil wir mehr in Plakate, Zeitungsannoncen und Großplakate investieren“.
Treffen werden „hybrid“: mit ein paar Leuten im Saal und dem Rest am anderen Streaming-Ende
Die schöne alte Polit-Floskel, „nah bei den Menschen“ sein zu wollen, mit Pläuschchen am Infostand, Kandidatenbesuchen von Tür zu Tür und proppevollen Marktplätzen mit dem einen oder anderen Partei-
Nach der Kritik der Stadt: Plakate werden abgehängt
Die geharnischte Kritik der Stadtspitze, die Straßenzüge nicht mit Wahlplakaten vollzukleistern, zeigt offenbar Wirkung: Nicht nur das Essener Bürger Bündnis (EBB), auch andere Gruppierungen entfernten zuletzt eine ganze Reihe von Laternen-Plakaten, um wenigstens halbwegs an die Zahlen der ihnen zugestandenen Kontingente heranzukommen.
Stadtdirektor Peter Renzel hatte die Parteien im Wahlausschuss ermahnt, vor allem Straßenschilder plakatfrei zu halten. Andernfalls werde man von städtischer Seite aktiv.
Promi als Zugpferd – alles vom Tisch. In abstandswahrenden Corona-Zeiten wirkt Nähe eher bedrohlich, weshalb die Grünen sich aufs Fahrrad schwingen: Baustellen- oder anderen Touren hätten eine gute Außenwirkung, versichert OB-Kandidat Mehrdad Mostofizadeh, und seien mit dem Drahtesel als natürlichem Abstandshalter ideal zu bewerkstelligen.
Ansonsten habe die Partei nach eigenem Bekunden „hybride“ Veranstaltungen für sich entdeckt, sagt Parteichef Kai Gehring: Ein paar Leute hocken im Saal, alle anderen können per Streaming am PC zuschauen. „Wir haben uns dafür digital erheblich modernisiert“, versichert Gehring wiewohl noch niemand weiß, welchen Zuspruch ein Format findet, bei dem die gewohnte Live-Atmosphäre durch den erzwungenen Blick der Kameraführung und scheppernde PC-Lautsprecher leiden dürfte.
Ein Dutzend Sätze im Ultrakurz-Programm: „Das ist die Länge, die die Leute auch lesen“
Und während das Essener Bürger Bündnis mit einer Plakatierungs-Breitseite, wuchtiger als die gesamte Konkurrenz, stadtweit ins Blickfeld rückt, und die AfD auf Vorsicht bedacht ist machen die Linken auf allen „Social Media“-Kanälen mobil: „Die Stärke unserer Partei ist das Gespräch von Person zu Person“, sagt Spitzenkandidat Daniel Kerekeš, „das hat uns Corona kaputtgemacht“.
Also wird gepostet, bis das Smartphone glüht: Auf Facebook und Instagram, Youtube und TikTok, im eigenen Podcast und auf der Webseite. Ihr 60-seitiges Programm haben die Linken auf ein Dutzend
Parolen heruntergekürzt, „das ist die Länge, die die Leute auch lesen“, heißt es. Und dies bei Bedarf auch auf Russisch und Arabisch, Polnisch und Griechisch, Türkisch und in Gebärdensprache.
Das einzige unverwüstliche Wahlkampf-Instrument auch in Corona-Zeiten: der Kuli
Man müsse halt kreativ sein, sagen die Wahlkämpfer durch die Bank. Und immerhin, ein paar Leute kommen ja auch von sich aus an die Infostände, fragen nach den Themen, die ihnen auf dem Herzen liegen, diskutieren, mit dem gebotenen Abstand. Und greifen zum Kugelschreiber, dem augenscheinlich absolut unverwüstlichen Wahlkampf-Instrument, dessen Beliebtheit auch in Corona-Zeiten nicht gelitten hat.
„Kein Wahlkampf ohne Kulis“, schwört Thomas Frank von der CDU und hat nicht weniger als 30.000 Stück geordert. Auch Thomas Kufen, der als OB in Krisenzeiten selbst nach SPD-Meinung profitiert, verfügt über personalisierte Exemplare. Die SPD hält mit allerlei Schreibgerät dagegen und legt noch ein Essener Stadtteil-Quartett oben drauf, Motto: „Die Karten werden neu gemischt.“ Joker ist dort Oliver Kern.