Gerschede. Findling in Gerschede als Beutestück: Vor 71 Jahren stahlen ihn Mitglieder gegen den Widerstand des Nachtwächters von der Krupp-Konsum-Anstalt.
Wohl kaum ein Dorfplatz ist inniger besungen worden als der am Wilmsweg in der Gimkenhof-Siedlung in Essen-Gerschede. Hier folgt seine dunkle Geschichte.
„Ja im Wilmsweg ist es schön,
um den Dorfplatz rumzugehn.“
Die Gerscheder haben einst wahre Loblieder auf den Wilmsweg und seine Festwiese gedichtet. In den Jubiläumsschriften der 1938 gegründeten Siedlung wird die Idylle in ‘zig Strophen verherrlicht -- mal eleganter, mal holpriger.
„Ja im Wilmsweg ist es schön, an dem Wasserkran zu drehn.
Die Leitung ist ein Werk der Siedler, von Kosak bis hinauf zu Fiedler.
Ja im Wilmsweg ist es schön, an dem Wasserkran zu drehn.“
Der Dorfplatz ist eigentlich eine begrünte Verkehrsinsel auf dem Wilmsweg. Er liegt nicht zentral in der Siedlung, sondern am nordwestlichen Rand. „Aber unser Dorfplatz ist der Mittelpunkt der Siedlung“, betont Hans-Werner Nitz, der erste Vorsitzende der Siedlergemeinschaft.
Mehrere Bäume werfen Schatten auf die Eigenheime, am oberen Teil des Platzes verhüllt ein dichtes Gebüsch einen Stromverteilerkasten. Der Rasen macht einen gepflegten Eindruck. Der Dorfplatz ist in der Obhut von Grün und Gruga, einige Anwohner werfen aber auch immer wieder einen Blick drauf.
Ins Auge sticht sofort der Gedenkstein in der Mitte. Ein Findling aus der Eiszeit mit einem Durchmesser von etwa einem Meter ruht auf einem Fundament. Dass er überhaupt den Dorfplatz zieren darf, ist das Ergebnis eines – Diebstahls.
Nachtwächter hatte das Treiben am Düppenberg beobachtet
Er muss sich am 5. August 1949 auf dem Düppenberg abgespielt haben. Es war ein Freitag, vermutlich ein sehr warmer Abend. Bis dahin lag der Stein vor der Krupp-Konsum-Anstalt am Düppenberg 72. Das Gebäude steht dort noch heute, wenn auch mit frischem Anstrich.
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„Unter Mitwirkung“ von Gimkenhof-Geschäftsführer Franz Lux, wohnhaft am Wilmsweg, sei der Stein an diesem Abend abtransportiert worden, beschwerte sich drei Wochen später die Abteilung „Wohnungswesen“ von Krupp und forderte die sofortige Rückgabe.
Der Findling-Klau wurde auch nicht klammheimlich, sondern offenbar lautstark begangen. Wenn man den Wohnungswesen-Mitarbeitern Vormbrock und Kurscheidt Glauben schenken darf, dann hatte nämlich der Nachtwächter das Treiben am Düppenberg beobachtet. Doch gegen die Männer vom Gimkenhof hatte er wohl keine Chance. Als er die Diebe an der „Fortnahme des Findlings hindern wollte“, sei er „beschimpft und bedroht worden“, beklagen sich die Kruppianer. Zustände müssen das damals in Gerschede gewesen sein . . .
Dreister Diebstahl wurde in einem Gedicht besungen und beschönigt
Drei Wochen später hatten sich die Gemüter bei Krupp aber wieder etwas beruhigt. Denn es gab eine überraschende Wendung. „Mit Rücksicht darauf, daß der von der Siedlungsgemeinschaft Gimkenhof von unserem Grundstück Düppenberg 72 fortgeschaffte Findling inzwischen als Gedenkstein Verwendung gefunden hat, wollen wir von der Forderung auf Rückgabe Abstand nehmen“, lenkten die Herren in einem weiteren Schreiben an Geschäftsführer Franz Lux ein.
Ein Vorgang, der wohl allgemein einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Denn ein knappes Jahrzehnt später wurde der dreiste Diebstahl bereits in einem Gedicht besungen und beschönigt:
„Der Findling auf dem Dorfplatz, unser aller Freud,
hat gekostet den Organisatoren manch’ Leid.
Darum hat es gegeben viel
Schreiberei,
doch das war den Leuten
einerlei.“
Die erste Inschrift auf dem Stein galt noch „Dem Gedenken unserer Verstorbenen 1938 – 1963“. Sie bestand aus Bronze-Buchstaben, die der Steinmetz Karl Dybowski aus der Lehrstraße in den Findling gedübelt hatte. Mit 114,40 Mark ließ er sich seine Arbeit entlohnen.
Noch heute löst das Totengedenken besondere Gefühle im Gimkenhof aus
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Ausgesprochen feierlich wurde die Kranzniederlegung zum 25-jährigen Bestehen der Siedlung vollzogen. Das geht aus der Festschrift hervor, die Andreas Koerner im Archiv des Kultur- und Heimatvereins aufbewahrt. Das Zeremoniell am Samstag, 3. August 1963, 18 Uhr, begleiteten das Blasorchester der Bergwerksdirektion Essen-Rossenray sowie der Männergesangsverein Gregorius. Zur Aufführung gelangten „Heilig, Heilig, Heilig“ von Franz Schubert und eine Motette von Hans Georg Nägeli.
Allerdings war es damit auch genug mit den ernsten Teil des Abends: Ab 20 Uhr strömten die Gerscheder zu „Musik und Tanz im Festzelt bis zum Wecken“.
Noch heute löst das Totengedenken besondere Gefühle im Gimkenhof aus. „Wenn wir alle fünf Jahre Jubiläum feiern, legen wir immer Blumen vor den Stein“, erzählt Sigrid Engels. Dass er mal ein Beutestück war, ist lange her.
Stammlokal war Flora Kißmanns Gaststätte
In diesem Jahrzehnt findet in der Gimkenhof-Siedlung ein Generationenwechsel statt. Zur Freude von Henning. Der Knirps findet jetzt rund um den Dorfplatz immer neue Spielkameraden. „Die Kinder treffen sich hier, um Fußball zu spielen oder rund um den Platz Fahrrad zu fahren“, erzählt seine Mutter Kim Cassola.
Ihre Ursprünge hat die Siedlung im Jahr 1927, als die Felder zwischen Düppenberg und Triftstraße überplant wurden. Doch dann kam die Wirtschaftskrise, und es dauerte zehn Jahre, bis die ersten Häuser bezugsfertig waren. Die Nazis hatten also mit der Planung nichts zu tun, doch als es an die Verteilung der Parzellen ging, hatten sie mit Hilfe ihres „Reichsheimstättenamts“ den Finger drauf. „Man musste in der NSDAP oder kinderreich gewesen sein, um berücksichtig zu werden“, sagt Heinz-Werner Nitz, erster Vorsitzende der Siedlergemeinschaft und SPD-Bezirksvertreter.
Heute gehören zur Siedlung 248 Häuser an Ackerstraße, Bieberweg, Engersgau, Gerschermannweg, Neuwiedweg, Rengsdorfer Heim, Raiffeisenweg, Wiedbach und Wilmsweg.
Jubiläen werden nicht mehr im Festzelt auf dem Schulgelände gefeiert, und auch das Stammlokal von Flora Kißmann an der Ackerstraße, Ecke Möllhoven ist schon lange abgerissen. Heute finden die Feiern in der Grundschule statt.
Auflagen verhindern den Weihnachtsbaum
„Der Mittelpunkt unserer Siedlung“ – das ist der Dorfplatz, sagt Heinz-Werner Nitz, und deshalb bemüht er sich gemeinsam mit seinem Vorstand, ihn noch schöner zu gestalten.
Zum Beispiel im Dezember durch einen Weihnachtsbaum. Dass daraus jedoch bis heute nichts geworden ist, lässt den Vorsitzenden und seine Schriftführerin Sigrid Engels nur noch mit dem Kopf schütteln.
Denn ihr Wunsch war recht einfach: Auf der großen Wiese, auf der schon mehrere Bäume stehen, wollten sie einen sechs Meter hohen Weihnachtsbaum hinzufügen. Sie hätten eine Hülse im Boden versenkt und da hinein in jedem Dezember einen Baum gestellt.
Anwohner hätte den Strom für die Beleuchtung zur Verfügung gestellt
„Das war schon alles durchgesprochen. Ein Anwohner hätte den Strom für die Beleuchtung zur Verfügung gestellt, und Schausteller Richard Müller hätte uns Matten besorgt, damit das Kabel unbeschadet von Autorädern über den Wilmsweg hätte gelegt werden können“, erzählt Heinz-Werner Nitz.
Doch die Siedler hatten nicht mit der Bürokratie gerechnet. Denn die Stadtverwaltung forderte für den Baum ein Fundament in der Größe 150 x 150 x 80 Zentimeter. Dazu sollte der Beton mit einem Drahtgeflecht aus rostfreiem Stahl verstärkt werden.
Für die Siedler war damit der Fall erledigt, bevor der Baum geschlagen wurde. „Stattdessen haben wir unsere Nikolausfeier in die Schule verlegt. Ulrich Schulte-Wieschen macht dann den Nikolaus und kommt damit prima an bei den Kindern“, erzählt Heinz-Werner Nitz.
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