Essen. Farina Kerekes arbeitet an der Kasse eines Essener Supermarkts: Der Applaus aus der Zeit des Corona-Lockdowns ist längst verhallt, sagt sie.

Neulich bewies Farina Kerekes echtes Detektivtalent: Über den Spiegel an ihrer Kasse beobachtete sie eine Kundin, die völlig ungeniert ihr benutztes Taschentuch im Supermarkt-Regal ablegte. Auf die Frage, warum sie dazu nicht den Mülleimer direkt hinter sich nutze, sei die Frau ausgewichen und weitergegangen.

„Das ist auch vor Corona schon passiert und war auch da schon eklig. Jetzt macht mich sowas einfach nur fassungslos“, sagt die Einzelhandelskauffrau, die als Kassiererin in Essen arbeitet.

Online-Petition für Verbesserung der Arbeitsbedingungen gestartet

Masken, die unter der Nase sitzen, mangelnde Nies- und Husthygiene, zu wenig Abstand: Alltagsgeschichten wie diese macht Farina Kerekes seit der Hochphase des Corona-Lockdowns im März auf Twitter öffentlich – und gibt der gebeutelten Branche ein Gesicht: Tagesspiegel, ZDF, Deutschlandfunk und weitere Medien berichteten über die 30-Jährige und ihren Kampf für mehr Anerkennung. Mehr als 18.000 Menschen haben ihre Online-Petition auf dem Kampagnen-Portal „Change.org“ bislang unterzeichnet. Unter dem Titel „Wir sind mehr wert als ein Danke! Der Handelsaufstand beginnt jetzt!“ hat Farina Kerekes mehrere Ziele formuliert, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

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Denn der Applaus, den viele anfangs noch für die Alltagshelden der Corona-Krise spendeten, er ist längst verhallt. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Kunden sehen mich gar nicht“, sagt die Essenerin. Gut die Hälfte, so schätzt sie, brächten nicht einmal eine Begrüßung über die Lippen, während sie ihre Einkäufe aufs Band legen.

Geschichten von respektlosem Verhalten kann sie einige erzählen, eine ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Eine Mutter sei mit ihrer Tochter an ihrer Kasse in Streit geraten. Thema waren die schlechten Schulleistungen des Teenagers. Dann habe die Mutter auf sie gezeigt und laut zu ihrer Tochter gesagt: „Wenn du so weiter machst, endest du noch wie die da.“ Farina Kerekes trifft der Satz noch immer wie ein Faustschlag in die Magengrube.

Ihre klaren und klugen Worte zum Zustand der Branche, sie brachten ihr nicht nur Anerkennung ein, gesteht die junge Frau: „Es waren ausschließlich Männer, die mich auf Twitter und anderen Kanälen anpöbelten. Ich solle mich nicht so anstellen, schließlich hätte ich mir den Job ja selbst ausgesucht oder sei zu dumm für etwas anderes. Da mache ich mir nicht einmal die Mühe, zu antworten“, sagt Farina Kerekes.

Aufstiegschancen gibt es kaum – und Filialleiter werden meistens Männer

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Denn sie mache ihren Job gerne, darauf legt sie wert: „Ich mag die Produkte, den Kontakt zum Kunden, die Kreativität wenn es darum geht, neue Ware zu platzieren.“ Dass sie oft als ungebildet und unqualifiziert gering geschätzt wird, ärgert Kerekes maßlos. Wie die meisten ihrer Kolleginnen absolvierte sie eine dreijährige Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. „Eingesetzt werden die meisten von uns aber nur als Kassiererin, wofür theoretisch nur eine zweijährige Ausbildung nötig wäre. So aber können die Handelsunternehmen im letzten Lehrjahr noch ein Jahr länger auf eine billige Arbeitskraft zählen“, wirft die junge Frau dem Einzelhandel vor.

Wie kaum eine andere sei diese noch immer durch das Patriarchat geprägt, glaubt Farina Kerekes: „Aufstiegschancen gibt es kaum, die wenigen Filialleiterstellen besetzen meistens Männer. Um sich gewerkschaftlich zu organisieren, fehlen den meisten Kolleginnen das Geld und der Mut.“ Viele seien finanziell auf den Job angewiesen und hätten oft noch weitere Nebenjobs, da es kaum noch Vollzeitverträge gäbe: „Nur ein Drittel bekommt den Tariflohn, alle anderen müssen sich mit dem Mindestlohn über Wasser halten“, sagt Kerekes, die selbst nach Tarif bezahlt wird.

Corona-Krise bringt Ungerechtigkeit im Einzelhandel zu Tage

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Ihr politisches Interesse kommt nicht von ungefähr: Ihr Mann Daniel Kerekes geht bei der Kommunalwahl im Herbst für die Linke in Essen wahrscheinlich als Oberbürgermeister-Kandidat ins Rennen.

Größter Antrieb für sie sei aber die Ungerechtigkeit im Einzelhandel, den die Corona-Krise wie ein Brennglas zu Tage gebracht habe, wie Kerekes in ihrer Petition formuliert. „Wir gelten als systemrelevant, Kanzlerin Merkel hat sich bei uns bedankt. Aber das ändert nichts daran, dass die meisten von uns in Altersarmut landen werden.“

Für ihren Einsatz, ihre Ängste und Überstunden während der Coronakrise bekam Farina Kerekes von ihrem Arbeitgeber einen Warengutschein über 200 Euro – natürlich einzulösen in ihrem Markt.

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