Essen. Essener Tagesmütter mit Vorerkrankungen sorgen sich um ihre Gesundheit, wenn sie arbeiten sollen. Tun sie’s nicht, riskieren sie ihre Existenz.
Tagesmütter und -väter betreuen in Essen fast 3000 Kleinkinder – Plätze, auf die die Stadt angewiesen ist. Auch deshalb überwies man den Tageseltern während der Corona-Krise weiter die Beiträge, von denen sie leben. Doch diese Finanzierung steht zum Start des neuen Kindergartenjahres auf der Kippe. Das bedrohe die Existenz all jener Tageseltern, die einer Risikogruppe angehören, sagt die Interessengemeinschaft (IG) Kindertagespflege. „Und wenn sie jetzt aufgeben, fallen viele Betreuungsplätze dauerhaft weg“, mahnt IG-Sprecherin Rebecca Eggeling.
Hintergrund ist eine neue Haltung von Essener Jugendamt und Landesfamilienministerium: Künftig reicht es nicht mehr, einer Risikogruppe – etwa der über 60-Jährigen – anzugehören. Nun wird eine individuelle arbeitsmedizinische Begutachtung gefordert; so empfehle es auch das Robert-Koch-Institut. Das Ministerium kündigt an: „Wenn das Kindertagespflege-Angebot auch im nächsten Kita-Jahr nach einer individuellen Risikofaktoren-Bewertung nicht mehr zur Verfügung steht, kann die Weiterfinanzierung spätestens zum 1. August eingestellt werden.“
„Die Rheuma-Medikamente fahren mein Immunsystem runter“
Das Jugendamt erklärt, dass man die Entgelte bisher weiterzahle, „um das wichtige Betreuungsangebot der Kindertagespflege langfristig vorzuhalten“. Wie lange es dabei bleibe, „kann derzeit noch nicht abgesehen werden“. Tagesmütter wie Nicole Warkocz fühlen sich nun vor die Wahl gestellt, ihre Gesundheit oder ihre Existenz aufs Spiel zu setzen. Die 52-Jährige leidet an Gelenkrheuma, spitzt alle vier Wochen Immunsuppressiva: „Mein Immunsystem fährt dann runter.“ Sprich: Die Gefahr einer Infektion steigt deutlich.
Als ihr Fachdienst sie aufforderte, möglichst schon zum 18. Mai wieder anzufangen, fühlte sich Nicole Warkocz unter Druck gesetzt: Man müsse womöglich prüfen, ob sie wirklich Risikopatientin sei, hieß es am Telefon. „Es klang, als würde ich bald kein Geld mehr bekommen.“ Trotz dieser Sorge, kehrte sie bisher nicht an ihren Arbeitsplatz zurück: „Mir sind die Infektionszahlen noch zu hoch.“
„Kleinkinder kann man nicht auf Distanz halten“
Inzwischen hat sich der Fachdienst entschuldigt, Nicole Warkocz kann nun bis Ende Juni entscheiden, ob sie im neuen Kita-Jahr wieder startet. Sie verstehe ja, dass die Stadt Planungssicherheit bei der Kinderbetreuung brauche, sie verstehe auch die Nöte der Eltern. „Ich will auch meinen Traumberuf nicht aufgeben.“ So wenig wie sie ihre Gesundheit riskieren möchte: Kinder könnten nun mal Corona übertragen, und Ein- oder Zweijährige könne man eben nicht auf Abstand halten.
Genau, sagt Julia Jung-Teichmann (44), ebenfalls Tagesmutter. Sie ärgere sich, wenn Leute klagen, dass die Biergärten geöffnet sind, Kitas und Tagespflegestellen aber noch nicht. „Im Biergarten lutschen auch nicht fünf Leute an einem Krug oder setzen sich auf den Schoß der Bedienung, um sich trösten zu lassen.“ Zur Tagespflege aber gehöre Schmusen, Trösten, Nähe. Was schön sei – und für sie ein Risiko: Jung-Teichmann ist Asthmatikerin.
„Wir sind Selbstständige: Wenn wir nicht arbeiten, verdienen wir nichts“
Trotzdem habe sie bisher praktisch nie krank gefeiert: Sie hat mit ihrem mit ihrem Mann eine sogenannte Großtagespflege, in der neun Kinder betreut werden. „Wir sind Selbstständige: Wenn wir nicht arbeiten, verdienen wir nichts, aber Kosten für Räume etc. laufen weiter.“ In der Coronakrise hat der Staat dieses Berufsrisiko abgefedert, stelle er nun die Zahlungen ein, „geraten die Tageseltern in eine dramatische Situation“.
Sie selbst habe noch Glück, sagt Jung-Teichmann: Ihr Mann kehre jetzt ohnehin in seinen alten Beruf zurück, damit haben sie ein festes Gehalt, und die Extra-Räumlichkeiten geben sie auf. Ab Juli wird die 44-Jährige Kinder bei sich zu Hause betreuen. Mit Unbehagen: „Ich mache das, weil ich sonst irgendwann kein Geld mehr bekomme und befürchte, dass ich ganz aus dem Beruf falle.“
Der Beschluss, Kitas und Tagespflege zum 8. Juni zu öffnen, habe sie völlig überrumpelt. Und sie ärgere sich, dass Tagesmütter ihre Verträge sofort in vollem Umfang erfüllen sollen, während die Betreuungszeiten in den Kitas jeweils um zehn Stunden gekürzt werden.
Tagesmütter haben ein finanzielles und gesundheitliches Doppel-Risiko
So sehe es die neue Richtlinie des Landes vor, erklärt eine Sprecherin des Jugendamtes. Man trage damit dem Umstand Rechnung, dass die Kitas „nach ersten Rückmeldungen“ 20 bis 30 Prozent weniger Personal hätten. Der Anteil der Risikopatienten dürfte bei Tageseltern allerdings ähnlich sein, da werde mit „zweierlei Maß“ gemessen, kritisiert Rebecca Eggeling von der IG Kindertagespflege. Sie kenne einige Tagesmütter, die angesichts des finanziellen und gesundheitlichen Doppel-Risikos nun einen Jobwechsel planten.
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Aktuell bildeten die Fachdienste Tageseltern aus, so dass man bald mit neuen Kräften rechnen dürfe, beschwichtigt das Jugendamt. „Zudem gehen wir davon aus, dass auch viele Kindertagespflegepersonen über 60 Jahre nach individueller Risikobewertung weiter betreuen werden.“ Einige der Älteren arbeiteten bereits wieder.
Julia Jung-Teichmann hat übrigens selbst vier Kinder und wird ihre Kleinste (4) jetzt nicht in die Kita zurückschicken: „Mir ist das zu schnell – und die Erzieherinnen tun mir leid, die sind ja genauso in Sorge wie wir.“