Essen. 19 Uhr, Fensterplatz, Steigerlied: eine kleine Straße mit großem Zusammenhalt. Nachbarn machen sich Mut in der Krise – so wie in Essen-Überruhr.

Dort, wo sich das Leben seit jeher auf der Straße abspielt, stehen die Menschen nun am Fenster, und durch die Uhlenbank in Überruhr mit ihren ehemaligen Bergmannshäusern schallt das Steigerlied: 19 Uhr, jeden Abend. Gesang, ein Lächeln und manche Träne gehören zu diesen Treffen, bei dem die Nachbarn Abstand halten und gleichzeitig noch enger zusammengerückt sind – in der kleinen Sackgasse mit dem großen Zusammenhalt, der sie jetzt durch die Krise trägt.

Wer hier ein Pfund Butter braucht, ruft das aus der Küche zur anderen Straßenseite, holt das auch mal im Schlafanzug ab. Infos zum Paket kommen über ihre rege Whatsapp-Gruppe. Ein Kaffee auf der Bank, ein Bier beim Fußball, das Public Viewing zur WM im eigens dafür umgebauten Carport und drei unvergessene Straßenfeste zählen an der Uhlenbank ebenso dazu, wie ein Auge auf die spielenden Kinder zu werfen, auf den kranken Nachbarn zu achten.

Gemeinschaft prägte die Nachbarschaft von Anfang an

Die Uhlenbank ist eine kleine Sackgasse, in der jeder jeden kennt: Katharina Babohn ist in einem der ehemaligen Bergmannshäuser geboren.
Die Uhlenbank ist eine kleine Sackgasse, in der jeder jeden kennt: Katharina Babohn ist in einem der ehemaligen Bergmannshäuser geboren. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

„Diese Gemeinschaft machte unsere Nachbarschaft von Anfang an aus“, berichtet Katharina Babohn über die Straße, mit ihren 29 Einfamilienhäusern und dem Mehrfamilienhaus vor Kopf. 1955 wurden die Häuser für Bergleute wie ihren Vater gebaut, der auf der Zeche Theodor einfuhr. Als sie ein Jahr später im Juli zur Welt kam, war es der Nachbar, der durchs Kornfeld bis nach Byfang rannte, um die Hebamme zu holen.

Bis zu 40 Kinder tobten damals durch die Straße, spielten Hinkelstein, breiteten Puppen aus, pflückten Erbsen oder Stachelbeeren in den Gärten. Fußball mit den großen Jungs und eine Kloppe prägen ihre Kindheitserinnerungen ebenso wie der frühe Tod ihrer Mutter. Als diese starb, spürte Katharina Babohn mit gerade einmal 14 Jahren bewusst, was es bedeutet, füreinander einzustehen. „Ich wurde aufgefangen, meine Nachbarin war wie eine Mutter für mich.“

In den meisten Bergmannshäusern gab es bereits einen Generationenwechsel

Bis heute lebt die 62-Jährige, die als Sachbearbeiterin bei Vodafone in Altersteilzeit ist, in dem Haus, in dem sie geboren wurde. Um sie herum haben die Generationen gewechselt („nur Klaus ist älter als ich“), gleich nebenan wohnt ihr Sohn mit seiner Familie im früheren Haus ihrer Ziehmutter.

Ein Stück weiter hinauf sind Jan und Lena Hüls vor neun Jahren eingezogen, inzwischen ist ihre Familie um Hanna (5), Mara (3) und Hund Emma gewachsen. Ganz ohne zu wissen, was sie erwartet, erfuhr das junge Paar genau das schon beim Einzug: „Wir sind mit offenen Armen empfangen worden“, berichtet die 33-Jährige, die als Disponentin bei Siemens arbeitet. Ihr Mann ist Kfz-Meister und derzeit in Kurzarbeit.

Viel Leben auf der Straße und die Möglichkeit, die Tür schließen zu können

Blicken sie zurück auf erste Begegnungen und Gespräche, so haben sie sich von Anfang an in ihrem neuen Zuhause behütet gefühlt und gemerkt, dass sie sich aufeinander verlassen können. Zum Alltag gehören viel Leben auf der Straße und doch die Möglichkeit, die Tür mal schließen zu können, ohne dass sich jemand beleidigt fühlt. Es gibt Situationen, in denen die Nachbarin auf dem Weg zum Einkaufen prompt umkehrt, „weil Hanna die Treppe heruntergefallen ist und ich kein Blut sehen kann“, erzählt Lena Hüls dankbar.

Und dennoch: Das Paar hat über einen Umzug nachgedacht. Ganz kurz nur, versichern sie. Stattdessen haben sie ihr 75 Quadratmeter großes Haus ausgebaut, bevor Mara geboren wurde, so dass ihre beiden Töchter weiterhin mit Maxim, Carlos, Emil und Moritz aufwachsen.

Mit der Großmutter unter einem Dach gewohnt

Sie hat die tägliche Solidaritätsaktion „Fenster-Singen“ ins Leben gerufen: Daniela Schmidt-Dutz mit Tochter Emily und ihrem Mann Maik.
Sie hat die tägliche Solidaritätsaktion „Fenster-Singen“ ins Leben gerufen: Daniela Schmidt-Dutz mit Tochter Emily und ihrem Mann Maik. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Schräg gegenüber lebt Emily (12) mit ihren Eltern. „Es ist das Haus meiner Großeltern, in dem ich groß geworden bin“, erzählt ihre Mutter Daniela Schmidt-Dutz (47), die als Kind oft aus Freisenbruch nach Überruhr kam, weil ihre Eltern berufstätig gewesen sind. Sie selbst arbeitet wie ihr Mann Maik (44) bei der Ruhrbahn. Während die Uhlenbank für seine Frau immer schon Heimat bedeutet hat, war sein erster Eindruck: „Ganz schön klein hier.“ Und dann hat er sich auf Anhieb mit allen verstanden.

Sie haben einige Zeit mit der Großmutter unter einem Dach gewohnt. Im oberen Geschoss sitzen sie jetzt mit ihrer Tochter im Fenster, zünden ein Licht an, hören die Musik, singen mit. Die Solidaritäts-Aktion war die Idee von Daniela Schmidt-Dutz, die zuvor Gesänge auf Facebook in Stadien wie in Bochum und Dortmund entdeckt hatte. „You’ll never walk alone“ war darunter und ist es nun in Überuhr jeden Abend. „Passt zu uns“, dachte sie. Das Steigerlied ohnehin. Zunächst hat sie ihre Nachbarn mit den Liedern überrascht, seitdem erleben sie gemeinsam diese emotionalen Momente und machen sich gegenseitig Mut – und ein echter DJ die Musik.

DJ aus der Nachbarschaft steht mit dem Pult am Fenster

„Alle anderen Veranstaltungen sind ja derzeit abgesagt“, sagt Christoph Gose, der hinter seinem Pult im früheren Haus seiner Großmutter steht. Arbeitslos ist der 45-Jährige allerdings mitnichten, nur arbeitet er jetzt in seinem anderen Beruf: als Fachpfleger und Wundmanager kümmert er sich um die Bewohner in einer Überruhrer Seniorenresidenz. Corona-Fälle gebe es dort glücklicherweise aktuell nicht, belastende Situationen, eine Maske für Mund und Nase und die ständige Angst im Nacken jedoch täglich.

Nachbar Christoph Gose arbeitet derzeit in der Pflege und legt in seinem zweiten Beruf als DJ jeden Abend zu Hause in Überruhr am Fenster auf.
Nachbar Christoph Gose arbeitet derzeit in der Pflege und legt in seinem zweiten Beruf als DJ jeden Abend zu Hause in Überruhr am Fenster auf. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Durchatmen heißt es da zurück daheim, das gilt für seine Frau Diana ebenso. Die 46-Jährige ist eigentlich als Altenpflegerin in der Tagespflege beschäftigt. Da diese geschlossen wurde, packt sie in einem Horster Altenheim an, wo sie gebraucht wird. Ein Knochenjob, bei dem nun zudem das Virus ständig präsent ist, in ihrem Kopf und längst in einigen Essener Heimen. „Ich passe daher auch im Privaten sehr auf“, sagt sie zu den Kontaktregeln, wegen der sie manche Umarmung vermisst, die in ihrer Nachbarschaft sonst einfach dazugehört.

Zusammenhalt trägt in schwierigen Zeiten

Wie sehr dieser große Zusammenhalt besonders in schwierigen Zeiten trägt, haben die beiden längst erfahren. Damals, als sie ihr Haus umgebaut und zwei Kinderzimmer eingerichtet haben, die heute Malraum und Studio sind. Nachwuchs hätten sie zwar nicht bekommen: „Aber eine riesengroße Familie“, sagt Diana Gose zufrieden, während die Musik verstummt ist und nebenan Kinderstimmen laut werden: „Gute Nacht, Christoph.“

Nach zwei Liedern endet ihr Treffen stets mit Applaus für alle Helfer in dieser Krise. Und für die Zeit danach schmieden die Nachbarn bereits Pläne für eine große Straßenparty. Vorerst sind sie gleich am nächsten Abend wieder verabredet: 19 Uhr, an den Fenstern, zum Steigerlied. Glück auf, Uhlenbank!

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