Essen. Wie viele Kirchen ist der Essener Dom auch in der Corona-Krise nach wie vor geöffnet. Doch es kommen nur noch wenige Menschen. Eine Reportage.
Sonst brennt zu seinen Füßen im linken Seitenschiff eigentlich immer eine Kerze. „Hl. Rochus, bitte für uns!“ steht ein wenig verwittert auf dem Steinsockel. Aber heute ist der Kerzenständer dunkel. Dabei gilt Rochus unter den christlichen Heiligen als einer der Seuchenexperten schlechthin: Im Mittelalter soll er in Norditalien Pest-Kranke geheilt haben und selbst auf wundersame Weise von der Krankheit genesen sein. Seine Figur im Essener Dom ist kurz nach den Essener Pest-Epidemien im 15. Jahrhundert entstanden. Seitdem haben die Menschen hier um Gottes Beistand bei Pest, Cholera und allerlei anderen Epidemien gebetet. Doch in Corona-Zeiten herrscht nicht nur bei Rochus Ruhe.
Während der Dom und die Anbetungskirche St. Johann nebenan nach wie vor täglich geöffnet sind, ebbt der Besucherstrom seit der Absage von Gottesdiensten, der Verhängung von Kontaktverboten und der Schließung der umliegenden Läden und Restaurants spürbar ab. Jetzt, mittags um 12 Uhr, ist kein einziger Besucher in dem jahrhundertealten Gotteshaus. Wo sonst ein leuchtender See aus Kerzen brennt, haben Gläubige zu Füßen der Goldenen Madonna gerade vier Lichter angezündet. Und wo in der Anbetungskirche sonst Betende und Beichtende ein- und ausgehen, ruht eine Obdachlose einen Moment in der letzten Bank.
Kerze anzünden mit Gummihandschuhen
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Leise öffnet sich die Glastür. Eine Frau mit Winterjacke kommt herein und wendet sich gleich rechts zur Marienikone. Gemessen an der Kerzen-Zahl findet das goldene Bild gleich am Eingang im Dom noch den meisten Zuspruch. Die Frau trägt blaue Gummi-Handschuhe, wohl aus Hygiene-Gründen. Damit greift sie eine Kerze, zündet sie an und legt die blauen Hände zu einem kurzen Gebet zusammen, bevor sie wieder geht und die Stille in den Dom zurückkehrt. Andacht in Corona-Zeiten.
„Not lehrt beten“, sagt der Volksmund, der so viele Kriege und Krankheiten kennt, in denen sich die Menschen in die Kirchen geflüchtet haben, um Beistand und Trost zu erfahren. Doch bei der Corona-Not ist das anders. Wo „Bleibt zuhause!“ und „Zwei Meter Abstand!“ die Parolen der Stunde sind, verzichten viele selbst auf die Nähe der Kirche.
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Das stellt auch Bernd Wolharn fest. Der Priester gehört mit den Küstern, Putzfrauen und dem Sicherheitsmann zu den wenigen Menschen, die noch täglich im Dom präsent sind. Wolharn leitet die Cityseelsorge „grüßgott“ am Essener Dom, doch viel zu grüßen hat er derzeit nicht.
„Tag für Tag kommen weniger “, sagt er. Natürlich bedauert er diesen Verlust, aber weniger für seine Kirche als für die Menschen. „Gerade viele Ältere bleiben jetzt zuhause.“ Das sei nachvollziehbar und ja auch so empfohlen, „aber für viele ist das hier eine Heimat – und diese Sehnsucht nach Heimat, die kann man nicht einfach abstellen“. Oft sei der morgendliche Gottesdienst der einzige Kontakt des Tages – und der falle jetzt weg.
Gespräche über zwei Kirchbänke hinweg
Wer kommt jetzt überhaupt noch in den Dom? „Ein paar von denen, die immer kommen, die ganz gezielt eine Kerze bei der Goldenen Madonna, an der Ikone oder beim Hl. Rochus anzünden und wieder gehen“, sagt Wolharn; Stammkunden, die ihre Glaubens-Heimat pflegen. „Und es kommen die, die froh sind, dass bei allem, was in der Innenstadt geschlossen ist, zumindest die Kirche noch geöffnet hat.“
Ob mit „Stammkunden“ oder „Touristen“: Manchmal ergäben sich dann Gespräche, erzählt Wolharn über den Sicherheitsabstand von zwei Kirchenbänken hinweg. Die drehten sich natürlich immer um Corona, um praktische Probleme, Kontaktverbote und Einsamkeit – aber auch um ganz andere Dinge, schließlich geht das Leben auch in der Corona-Krise weiter.
Was das Beten angeht „gibt es Gott sei Dank ganz viele kreative Möglichkeiten, im Gebet anders miteinander verbunden zu bleiben“, sagt Wolharn. Anders, als nebeneinander in der Kirchbank zu sitzen. Stattdessen beten Menschen jetzt daheim am Küchentisch, abends mit einer Kerze im Fenster, in Videokonferenzen oder WhatsApp-Gruppen und schauen Gottesdienste im Fernsehen oder im Internet an.
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Das sei alles gut und wichtig, sagt Wolharn – und doch sei der Wert „dieses Ortes“, wie er sagt, nicht zu verachten. Und wer weiß, vielleicht kommen ja nach der ersten Corona-Schockstarre in den kommenden Tagen wieder ein paar mehr Menschen in den Dom und die anderen geöffneten Kirchen und machen sich auf die Suche nach diesem „Wert“.
Vielleicht suchen sie liebgewonnene Ritualen, Gebete und Gesänge der Kar- und Ostertage. „Die Älteren sagen mir: Selbst im Krieg und größter Not haben wir das gefeiert!“, berichtet Wolharn und erzählt von einzelnen Menschen, die jetzt lange in der Kirchbank sitzen und im Gebetbuch „Gotteslob“ lesen oder mit dem Buch den Kreuzweg beten.
Wolharns Hoffnung: „So sehr die Menschen Abstand zu ihren Nachbarn halten müssen, so sehr erfahren sie hier womöglich, wie nah ihnen Gott ist.“
„Vieles erinnert im Moment an Karfreitag“
Am Ausgang blickt Wolharn auf das Weihwasserbecken, das nun schon seit zwei Wochen trocken ist – so wie sonst nur an Karfreitag. „Vieles erinnert im Moment an Karfreitag“, sagt Wolharn. Wichtig sei, „dass wir nicht am Karfreitag stehen bleiben, sondern dass wir Ostern feiern!“ Dabei geht es ihm weniger um bestimmte Gottesdienste als um die christliche Grundhaltung: „Dass wir Ostern das Leben feiern!“ Auferstehung eben, den Sieg über den Tod. Vielleicht ist das in diesen Corona-Tagen ja auch für manchen eine Perspektive, der eine Kirche wie den Essener Dom bislang nicht als seine Heimat bezeichnet hat.