Essen. Ruhe bewahren, Probleme lösen: Inmitten der Corona-Sorgen stellt sich die Stadt im Lagezentrum der Feuerwehr an der Eisernen Hand der Krise.
Draußen strahlt die Frühlingssonne, aber hier drinnen hat sie an diesem Nachmittag keine Chance: In Gebäude VIII der Feuerwehrzentrale, Raum 2.23, haben sie die Jalousien komplett heruntergelassen; nur etwas schummriges Kunstlicht erhellt die Szenerie, was dem langgezogenen Raum mit seinem ovalen Konferenztisch eine gewisse Bunker-Atmosphäre verleiht.
Muss aber sein, ansonsten lassen sich die an die Wand projizierten Coronavirus-Zahlen nicht richtig erkennen: 2535 Verdachtsfälle, 1199 Menschen in aktueller Quarantäne, 215 Covid-19-Erkrankte, 10 neue Fälle aus der Frühschicht, alles Stand Sonntag 14.30 Uhr. – „Das ist gut“, sagt einer, und die Runde nickt. Es ist der 26. Tag im Lagezentrum an der Eisernen Hand, der Straßenname passt: Hier will die Stadt diese Pandemie in den Griff kriegen.
Kein hektisches Treiben, keine Spurts über den Flur des Lagezentrums
Und das in einem Kampf, der keine Vorbilder kennt. Sonst steuern sie von hier aus alle möglichen Alarm-Lagen, von Blindgänger-Entschärfungen bis zu Großbränden, und manchmal auch KÜHE – koordinierte überörtliche Hilfe Essen. Bei der Feuerwehr gehört die Liebe zu Abkürzungen aller Art offenbar zum Job-Profil.
Dies hier ist jedenfalls das LZ-UGB – das Lagezentrum der Unteren Gesundheitsbehörde, koordiniert durch die Katastrophen-Profis der Feuerwehr, und wer dort hektisches Treiben erwartet, Spurts über den Flur und alarmistisches Geschrei, liegt völlig daneben. Es ist eine Krise, deren Management zum Schritt für Schritt entschleunigten Leben da draußen passt: Wo Feuerwehrchef Thomas Lembeck ruhig und konzentriert eine eingespielte Tagesordnung abarbeitet.
Hilft der selbstgenähte Mund-Nasen-Schutz gegen den Bürokratie-Virus?
Heute geht es unter anderem um Schutzkleidung und den Mund-Nase-Schutz oder besser: darum, dass die an allen Ecken und Enden fehlen, „obwohl unsere Leute nähen wie die Weltmeister“, wie Sozialdezernent Peter Renzel versichert. Material für 41.000 Masken ist verbraucht, neues muss her, zumal viele Ehrenamtliche am evangelischen Seniorenzentrum Martineum in Steele zu Hilfe eilen: „Wir könnten 1000 Stück pro Woche schaffen.“
Von Ulf Dittmer, Professor am Institut für Virologie der Uniklinik Essen, hat man sich den schützenden Nutzen der Teile im Umgang mit Fremden noch einmal ausdrücklich bestätigen lassen, aber was kann ein Infektions-Experte schon ausrichten gegen die ansteckende Pingeligkeit der Bürokratie? Die Bezirksregierung in Düsseldorf hat jedenfalls Bedenken angemeldet, weil es sich da doch um ein rechtlich gar nicht zertifiziertes Medizinprodukt handle.
Die meisten Covid-19-Erkrankten in Essen berichten von milden Symptomen
Das Augenrollen der Essener Verantwortlichen in der Runde – Feuerwehr, Gesundheitsamt, Uni – ist unübersehbar, aber was soll’s, man mag sich nicht verkämpfen: Es wird also eine Art Haftungsausschluss geben, weiter, nächstes Thema: Die Statistik ist noch nicht transparent genug, das wird man besprechen müssen, am Dienstag in der Klinikrunde. Außerdem könnte man könnte noch ehrenamtlich helfende Ärzte gebrauchen, die bei positiv getesteten Personen Hausbesuche machen, „das wäre großartig“.
Die meisten Infektionen verlaufen milde, hat eine telefonische Umfrage unter den Patienten ergeben: Husten, ein bisschen Fieber, Gliederschmerzen, von 180 mussten nur drei in die Klinik. Aufatmen in der Runde. Ob der Kelch an Essen vorübergeht?
In der Krise verschwimmen die Hierarchien, entschieden wird per Kopfnicken
Es wird eine Konferenz der Krankenpflegeschulen geben, „wir brauchen eine Szenarien-Planung“, sagt Renzel, während sein Dezernenten-Kollege Christian Kromberg für weitere Ausgangsbeschränkungen wirbt. Er hat einen Brief an den NRW-Gesundheitsminister geschrieben, Ultimatum inklusive, aber das hat sich am Abend bereits erledigt. Bund und Land preschen vor.
In der Krise überstürzen sich die Ereignisse, und es verschwimmen die Hierarchien: Man hört aufeinander, stellt seine eigene Position in Frage. „Sollen wir die Baumärkte und Gartencenter schließen?“ Lieber nicht, heißt es vielstimmig: Es ziehen doch Leute um, Gartenarbeit gilt als eine Art Ventil. Also gut: Vielleicht reichen Kontrollen, ob der Abstand gewahrt ist. Mal sehen.
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Alle haben sie Angst, im Zweifel nicht mehr zur Arbeit zu kommen
Eigene Beschlüsse fällt die Krisenrunde nicht mit großem Tamtam, sondern beinahe beiläufig: Dass das Robert-Koch-Institut einige Kontakt-Empfehlungen lockert, gefällt Marina Lorsch, Mikrobiologin im Gesundheitsamt, gar nicht. Sehen andere auch kritisch. Renzel fragt kurzerhand in die Runde: „Ist das unsere Linie hier?“
Nicken. Ist es. So wie die Erkenntnis, dass man die Unternehmen der kritischen Infrastruktur in einer Telefonkonferenz wird einschwören müssen. Daneben gibt es zahllose Anfragen der Bürger, „weil alle Angst haben, nicht mehr zur Arbeit zu kommen“, gibt Dirk Achatz vom städtischen Amt für zentralen Service zu bedenken. Und dann ist da noch die Runde mit den Fraktionschefs, dem Amt für Wohnen, und apropos: Wie geht man mit den Obdachlosen um?
Tag 27 im Lagezentrum beginnt bitter: ein zweiter Todesfall
Mehr dazu morgen. Oder übermorgen. Oder irgendwann dieser Tage. Draußen neigt sich die Sonne Richtung Horizont, der Blick wandert zu den beiden Gummibäumen in der hinteren Ecke des Lagezentrums. Sie sind in einem eher beklagenswerten Zustand, kein Wunder: Sie kennen nur Krise.
Und unwillkürlich denkt man daran, was dieses Krise wohl mit denen macht, die hier so eng aufeinanderhocken. Am späten Abend meldet die Stadt neun Coronavirus-Kranke in einem Frohnhauser Pflegeheim, am nächsten Morgen, gibt es in Schönebeck den zweiten Essener Toten zu vermelden. Es ist Tag 27 im Lagezentrum. Und es ist noch lange nicht vorbei.