Essen. Lange Warteschlangen, verstörte Gesichter, regelkonforme Spaziergänge - Szenen in Essen am Wochenende: Eindrücke, gesammelt von der Redaktion.

Der Baldeneysee ist noch vor wenigen Tagen ein Hotspot der Verdrängung gewesen. Fröhliches Lachen, Radler-Pulks, volle Tische in den Ausflugslokalen, dazu Prösterchen als wenn nichts wäre. Wie anders am Wochenende. Still, fast scheu wandern die Menschen am Ufer entlang, respektvolle Abstände sind Pflicht und wo sie einmal fehlen, etwa an den Treppen am Stauwehr oder beim Überholen an den schmalen Stellen des Baldeneysteigs, sieht man zu, schnell an den anderen vorbeizukommen.

Göttliches Wetter, Spaziergang nach strikten Regeln: an einem Aussichtspunkt am Baldeneysee.
Göttliches Wetter, Spaziergang nach strikten Regeln: an einem Aussichtspunkt am Baldeneysee. © F.S.

Die Spazierwege am See füllen sich ab 9.30 Uhr mit Joggern, Gassigängern, Spaziergängern. Es geht mal mehr, mal weniger freundlich zu. Mancher schaut weg, wenn er angeblickt wird, als ob das Virus durch Blicke übertragen wird.

Die Sonne suggeriert eine heile Welt, die sich in den Gesichtern nicht widerspiegelt

Allerdings gibt es auch keine Aggressivität. Freundliches Desinteresse, auch dumpfes Grübeln. Die Sonne scheint von einem stahlblauen Himmel und suggeriert eine heile Welt, die sich in den mehr oder weniger verstörten Gesichtern zumeist nicht widerspiegelt.

Eine Familie hat sich den Baldeneysteig vorgenommen, kennt aber den Weg nicht so ganz. Ein anderer, der etwas Kundiger ist, erklärt die weiteren Routenverlauf. Bei fünf Metern Abstand ist das nicht so einfach.

Die Warteschlange - das neue Kennzeichen der Rü und anderer Einkaufsstraßen

Ein Supermarkt-Kunde in Rüttenscheid packt mit Atemmaske und Gummihandschuhen seine Einkäufe ins Auto.
Ein Supermarkt-Kunde in Rüttenscheid packt mit Atemmaske und Gummihandschuhen seine Einkäufe ins Auto. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Auf der Rüttenscheider Straße ist nicht mehr viel übrig vom alten Fluidum. Vor dem Eingang der Metzgerei Gronau zieht sich eine 20, 30 Meter lange Warteschlange an den Häuserwänden entlang. Wie damals in der DDR, ist eine Assoziation, aber sie stimmt nicht. Denn Gronau hat nicht etwa zu wenig Ware, es dürfen nur halt nicht mehr 30 oder 40 Leute rein in den Laden, sondern maximal drei auf einmal.

Auch Edeka Hundrieser an der Rü 62 hat dieses Problem, wobei hier ein „Issa“-Wachmann den Zugang regelt und die Schlange regiert. Ein älterer Mann merkt es nicht sofort und will rein wie immer. „Da hinten ist das Ende der Schlange“, sagt einer vor ihm. Dann macht es sichtbar Klick. Stimmt ja, alles ist jetzt anders.

Die ersten haben nun Masken auf, nicht mehr nur Asiaten, wie noch vor einigen Tagen

Kein Ladenbesitzer lässt einfach Kunden rein, er darf es nicht. Die Warteschlange ist das neue Kennzeichen der Rü und auch der anderen Essener Einkaufsstraßen, sofern überhaupt noch Kunden kommen. Die ersten haben nun Masken auf - nicht mehr nur Asiaten wie noch vor einigen Tagen.

Der kleine Edeka an der Cäcilienstraße lässt nicht nur abgezählte Kunden ins Geschäft, ein Mitarbeiter desinfiziert jedesmal den Griff des Einkaufswagens. Die Stimmung wirkt allgemein bedrückter. Je höher die Zahl der Todesopfer in Italien wird, desto ängstlicher sind die Menschen. Keiner nimmt das mehr auf die leichte Schulter.

Hässliche Szene in einem Supermarkt - ein Mann sieht rot

Im Rewe-Supermarkt am Bredeneyer Tor eine hässliche Szene: Ein Mann, den Einkaufswagen randvoll, will sechs Liter Milch kaufen. „Drei sind leider nur erlaubt“, sagt die freundliche Verkäuferin. Augenblicklich rastet der Kunde aus, er habe eine große Familie und verlange jetzt sofort sechs Liter Milch. Die Verkäuferin bleibt hart, der Mann lässt den vollen Wagen stehen und verlässt wutentbrannt das Geschäft.

Die Warteschlange - das neue Kennzeichen der Rü.
Die Warteschlange - das neue Kennzeichen der Rü. © F.S.

Friedvoller das Bild auf dem Rüttenscheider Wochenmarkt: sehr lange Schlangen vor den Ständen, alle Kunden halten den Abstand ein. Alle gehen freundlich miteinander um und loben die Händler für ihren Einsatz. Beim Warten spricht man auch über die dringend notwendige Wertschätzung der Jobs wie Verkäuferin, Kassierer, Pflegepersonal, Ordnungskräfte, die neuerdings „systemrelevant“ heißen.

Kann man Bekannte noch begrüßen? Besser nur beiläufig

Man trifft Bekannte, fragt sich, ob das zwanglose Gespräch noch möglich ist. Lieber nicht. „Hallo und schöne Grüße zuhause!“ muss jetzt reichen.

Von der Margarethenhöhe aus ist die die 83-Jährige Dörte Kaufmann nach Rüttenscheid marschiert. „Man muss doch auch in diesen Zeiten vor die Tür“, so die Seniorin.

In Holsterhausen auf der Gemarkenstraße haben mehrere Passanten den Platz an der Sonne gefunden, vor der Kirche St. Mariä Empfängnis. Der Appell, Abstand zu halten, zeigt auch hier Wirkung. Denn auf jeder Bank sitzt nur ein einzelner Passant.

Hin und wieder ein Lächeln in Heisingen

In Heisingen tragen in der Postfiliale Rotthaus alle Mitarbeiter samt Chef Atemschutzmasken, während in der Apotheke nebenan die Tür nur einen Spalt breit offen steht, um Medikamente herauszureichen. Der Verkauf wird quasi auf der Straße abgewickelt.

Es gibt es auch nette Begegnungen beim Einkaufen, die Mutter mit Kleinkind bittet im Heisinger Rewe lächelnd vorbeizudürfen und am See kommen Fremde ins Gespräch, weil sie das Bedürfnis haben, über die skurrile Situation zu sprechen, auch freundlich und lächelnd.

Auf dem Spielplatz in Huttrop - Frühling und doch kein Frühling

Wohnen neben einem Spielplatz in Huttrop, Frühling hat hier immer den immer gleichen Sound: Vogelzwitschern, die Vertikutiermaschine aus dem Nachbarsgarten und der Klangteppich vom Spielplatz: das aufgeregte Durcheinander von Kinderstimmen, das satte Geräusch aufprallender Bälle, quietschende Spielgeräte, klackernde Schaukelketten, das Reiben von Turnschuhen auf sandigen Wegen, Mama-Rufe … Lust, Lebensfreude und eine beneidenswerte Energie liegen in diesen Kinderstimmen. Fröhlichkeit!

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Und Weltuntergang: das hemmungslose Weinen, wenn sich ein Kind beim Sturz vom Klettergerüst das Knie aufgeschlagen hat, wenn Emil die beste Schüppe gestohlen hat oder Papa sich weigert, das fünfte Eis auszugeben. Der Spielplatz-Sound musste nie neu abgemischt werden, er ist zeitlos, universell, eine Sinfonie des Frühlings. Jetzt fehlt er: Die Sonne, die Narzissen, die zwitschernden Meisen – sie alle müssen sich täuschen: Wie kann Frühling sein, wenn der Spielplatz schweigt?

Kein Kind ist auf der weitläufigen Anlage zu sehen; einsam tigert der Nachbarsjunge auf dem Bürgersteig hin und her. Erwachsene tragen Mundschutz, der Vierjährige hat sich Taucherbrille und Schnorchel aufgesetzt, ist vielleicht in einer Phantasiewelt namens Corona versunken. Blickt auf die Baumscheibe, die er neulich noch mit Eltern und Nachbarskindern bepflanzt hat, stoppt vor der Wohnungstür nebenan, die sonst immer offen steht, damit er jederzeit zu seinen Kumpels flitzen kann.

Am Sonntag Mittag läuten die Glocken der Klusen-Kapelle

Unten am See läutet am Sonntag gegen mittag die Glocke der Klusen-Kapelle, die wie alle Kirchen verschlossen ist. Ein spazierendes Paar bleibt fasziniert stehen und betrachtet die hin und her schwingende Glocke. Das einzig Gute vielleicht in diesen Tagen: Man sieht manche Dinge, die einem nie so aufgefallen sind.