Essen. Der Ernstfall: In einem Mehrfamilienhaus in Stoppenberg stehen zwei Mietparteien unter Quarantäne. Doch der Nachbar erfährt davon nichts.

Stell dir vor, deine Nachbarn im Mietshaus stehen wegen Coronavirus unter Quarantäne und du erfährst kein Sterbenswörtchen davon. Und dann stell dir weiter vor, dass einer der unter Quarantäne Stehenden auch noch draußen mit seinem Hund Gassi geht. Passiert ist dies in Stoppenberg, wo letzte Woche Donnerstag der erste Corona-Verdachtsfall in Essen auftrat. Es ist ein Fall, der für Kopfschütteln, Irritationen und reichlich Empörung sorgt – und im überschaubaren Quartier rund um die Nikolausschule seit Tagen Stadtgespräch ist.

Auch hier nimmt der Corona-Verdacht seinen Ausgang bei der berühmt-berüchtigten Karnevalsparty von Gangelt, Kreis Heinsberg. Die Nikolausstraße im gut 100 Kilometer fernen Stoppenberg erreicht er, weil eine Anwohnerin direkten Kontakt mit einer erkrankten Person aus dem Kreis Heinsberg gehabt haben soll.

„Analyse Task Force“ rückt aus: mit Notarztautos, Rettungswagen, Kommandofahrzeug

Stadtgespräch in Stoppenberg: Das Quartier rund um die Nikolausschule war Schauplatz des ersten Corona-Verdachtsfalls in Essen.
Stadtgespräch in Stoppenberg: Das Quartier rund um die Nikolausschule war Schauplatz des ersten Corona-Verdachtsfalls in Essen. © FUNKE Foto Services | Michael Gohl


Als das gerade erst neu geschaffene Corona-Lagezentrum am Donnerstag um 17.30 Uhr von der Stoppenberger Familie angerufen wird, reagieren die Verantwortlichen sofort. Schon eine halbe Stunde später rückt die „Analyse Task-Force“ aus. Das ist eine imposante und deshalb auch Aufsehen erregende Flotte aus Notarztautos, Rettungswagen und Kommandofahrzeugen der Feuerwehr. Ihr Ziel: die verdächtige Kontaktperson und sieben weitere Familienangehörige.

Die Kontaktperson mit Heinsberger Verbindung lebt mit ihrer Familie im Erdgeschoss des Mietshauses, ihr Bruder (ebenfalls mit Familie) hat die Wohnung im zweiten Obergeschoss, hinzu kommen deren im Nachbarhaus lebenden Eltern.

Dem unbeteiligten Bewohner, der im ersten Obergeschoss – also genau zwischen den Verdachts-Wohnungen – lebt, bleibt der geheimnisvolle Einsatz dieser Task Force nicht verborgen. Einen Reim kann sich der Mann darauf erst machen, als die Stadt Essen am selben Abend die Nachricht vom ersten Essener Verdachtsfall verbreitet und diese Zeitung darüber berichtet. Eine große kombinatorische Gabe gehört nicht dazu, dass es um das Coronavirus geht.

Trotz Quarantäne geht eine Person draußen mit dem Hund Gassi – wie geht das?

Eine Mitarbeiterin des Universitätsklinikums Essen hält ein Virologie-Röhrchen in der Hand.
Eine Mitarbeiterin des Universitätsklinikums Essen hält ein Virologie-Röhrchen in der Hand. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos


Von dem Unbeteiligten weiß man, dass er schon am selben Abend gerne informiert worden wäre über den Coronavirus-Verdachtsfall in seinem Haus. Doch man lässt ihn buchstäblich im Dunkeln tappen. Zwar gibt die Stadt nach negativer Beprobung schon am nächsten Morgen Entwarnung, doch alle acht „Verdächtigen“ werden unter Quarantäne gestellt: die Kontaktperson in angeordneter, die sieben anderen in freiwilliger häuslicher Quarantäne.

Die Verwirrung des Mannes schlägt am nächsten Tag um in Empörung, als einer aus der „Quarantäne-Familie“ nach Augenzeugenberichten „draußen mit dem Hund rumlief“. Daraufhin, so wird berichtet, greift der Mann am Freitag zum Telefon und ruft das eigens wegen Corona eingerichtete Bürgertelefon der Stadt an. Fragen gibt’s genug: Besteht eine Gefahr? Wie soll ich mich verhalten? Doch dort will niemand die Quarantäne seiner Nachbarn bestätigen. Es habe lediglich den lapidaren Ratschlag gegeben, sich gründlich die Hände zu waschen. Und auf Nachfrage die Bemerkung: Nein, wenn eine Gefahr gäbe, hätte man ihn längst informiert.

Wie viel unbequeme Wahrheit darf eine staatliche Behörde in Zeiten des Coronavirus ihren Bürgern zumuten? Eine offene Informationspolitik kann Hysterie schlimmstenfalls befeuern, amtliches Schweigen wiederum nährt Gerüchte und schafft Unbehagen.

Stadtsprecherin verteidigt die zurückhaltende Informationspolitik

Stadtsprecherin Silke Lenz, die jetzt täglich an den Sitzungen des Corona-Lagezentrums teilnimmt, verteidigt die zurückhaltende Informationspolitik, da der Nachbar keine Kontaktperson sei. „Er müsste nur informiert werden, wenn seine Gesundheit gefährdet wäre.“ Auch dass jemand, der unter freiwilliger Quarantäne stehe, draußen mit dem Hund Gassi gehe, sei kein Problem. Vorausgesetzt natürlich, er meidet Kontakt zu anderen Menschen – auch zu den Freunden vom Hundetreff. „An Geburtstagsfeiern und größeren Versammlungen soll er aber nicht teilnehmen. Ein Gespräch ihm Hausflur solle nach der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts nicht länger als eine Viertelstunde dauern.“

Die Empörung in Stoppenberg richte sich übrigens nicht gegen die Nachbarn, die immer noch unter Quarantäne stehen. In dieser heiklen Situation im Unklaren gelassen zu werden, so heißt es, kreide man der Behörde an. Solche Geheimniskrämerei beruhige nicht, sondern stifte im Gegenteil „Unruhe und Verwirrung“. Dass sich das Gesundheitsamt am Wochenende dann doch gemeldet und den Mann informiert habe, ändere nichts an seiner Kritik am Krisenmanagement der Stadt.