Essen. Das Blutbad von Hanau rückt kurzzeitig den Rassismus in unserer Gesellschaft in den Vordergrund. Was wird bleiben? Eine persönliche Betrachtung.

„Ich wünschte, ich hätte eine Knarre, dann würde ich dieses ganze Kanackenpack abknallen. Alles, was die können, ist Kinder machen fürs Kindergeld.“

Als ich im September 2018 auf Facebook veröffentlichte, was ein älterer Mann in der Gelsenkirchener Fußgängerzone gerade mit Blick auf mich und meinen zwei Monate alten Sohn sagte, erfuhr ich eine große Welle der Solidarität. Mehr noch: Viele „Bio-Deutsche“ – so nennen wir hier politisch unkorrekt, aber für jeden verständlich, Deutsche ohne sichtbare Migrationsgeschichte – hatten offenkundig das dringende Bedürfnis, sich bei mir für den Mann und seine Ausländer-Ermordungsfantasien zu entschuldigen.

Wer ich bin? Ein Deutscher, dessen Eltern aus der Türkei kamen

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Zum besseren Verständnis: Ich bin ein 32-jähriger Deutscher mit dunklem Vollbart und schwarzen Haaren, dessen Eltern vor ein paar Jahrzehnten aus der Türkei auswanderten, weil ihre eigene Sehnsucht nach einer freien, gerechten und toleranten Gesellschaft dort unerfüllt blieb. Deutschland hingegen hatte sich nach der Zerschlagung der faschistischen Diktatur zu einer lebenswerten Gesellschaft entwickelt, glaubten meine Eltern.

Schon bald wurde ihnen gewahr, dass ihre Annahme für das große Ganze zwar zutreffend, der Rassismus aber auch in der deutschen Gesellschaft trotz allem nicht ausgerottet war.

Den alltäglichen Rassismus lernten wir schon als Kinder kennen

Wenngleich nicht jeden Tag ein älterer Mann mit dem Finger auf uns zeigte und seinen Hass so deutlich aussprach wie der Rassist in der Gelsenkirchener Fußgängerzone, so lehrten meine Eltern mich und meine Schwester schon früh, dass es Menschen gibt, die uns hier nicht haben wollen und die uns das auch spüren lassen werden. Egal wie gut wir Deutsch sprechen, ob wir hier geboren und aufgewachsen sind. Ja sogar dann, wenn wir besser Deutsch sprechen als sie, dieses Land, seine Kultur und seine Geschichte besser kennen als sie. Wenn wir arbeiten, Steuern zahlen, uns ehrenamtlich engagieren…

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Worauf unsere Eltern uns vorzubereiten versuchten, ist der alltägliche Rassismus: der Job und die Wohnung, die wir wegen unseres Namens nicht kriegen. Die Discotür, die für uns verschlossen bleibt, der festere Griff der Menschen nach ihren Taschen, wenn wir an ihnen vorbeigehen. Ihr Unbehagen, wenn wir uns im Bus neben sie setzen…

Der Rassist von Hanau ermordete jene, die ihm fremd erschienen

Nach dem neuerlichem Blutbad, das ein Rassist – wahnhaft oder nicht – in Deutschland an Menschen verübt hat, die er offensichtlich für Türken, Araber, Kurden, Muslime, für „Kanacken“ hielt, haben sich landauf landab unzählige Menschen, die so aussehen wie ich, zu Wort gemeldet, weil jeder von ihnen seinen eigenen Rassisten aus der Fußgängerzone kennt.

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Ihre Stimmen verschmelzen zu einem Aufschrei der migrantischen Community. Tenor: Der Rassismus in Deutschland muss ein für alle Mal kompromisslos bekämpft werden. Sowohl in den staatlichen Institutionen als auch in der Gesellschaft. Viele Bio-Deutsche steigen in den Chor mit ein und mahnen: „Nie, nie wieder.“

Wieder einmal.

Hanau wird aus den Schlagzeilen verschwinden

In einigen Tagen bereits wird Hanau aus den Schlagzeilen verschwinden und aus den Diskussionen. Zurückbleiben wird noch ein weiterer Gedenktag nach Hoyerswerda, Mölln, Solingen, den NSU-Jahrestagen usw. Zurückzubleiben werden auch die alten Männer von der Fußgängerzone und die, die mit diesen Rassisten im Alltag leben müssen. Zurückbleiben werden aber auch die, die das Gefühl haben, bald in der Minderheit zu sein. Die, die Angst vor fremd anmutenden Riten und Verhaltensweisen haben. Und auch jene Minderheiten, die ihrerseits Menschen aus anderen Kulturkreisen verachten und diskriminieren.

Sinan Sat ist in Gelsenkirchen geboren und stellvertretender Redaktionsleiter der WAZ-Lokalredaktion Essen.
Sinan Sat ist in Gelsenkirchen geboren und stellvertretender Redaktionsleiter der WAZ-Lokalredaktion Essen. © FUNKE Foto Services | Sebastian Konopka

Was bleibt, ist die Lehre aus der Vergangenheit, dass wir die archaische Fehlannahme von Rassisten, sie seien so etwas wie die „Herrenrasse“, nicht ausrotten werden. Dass wir Hass und Gewalt nicht verhindern werden können.

Wir müssen wieder zivilisiert miteinander streiten

So unbestreitbar richtig der Appell ist, die Behörden müssen ihre Anstrengungen im Kampf gegen die rechtsextreme Szene verstärken, so nötig ist es auch, dass wir in unserer Gesellschaft wieder einen Weg finden, miteinander zivilisiert zu streiten, damit Deutschland das tolerante und freie Land bleibt, das meine Eltern einst als unsere Heimat wählten.

Auch und gerade weil wir das nächste Attentat von Menschenhassern jedweder Couleur nicht ausschließen können.

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