Essen. Der Ehrenfriedhof in Essen erinnert an gefallene Soldaten und verstorbene Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg – und an zwei zivile Opfer.
Die meisten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs liegen weit von Essen entfernt: in Verdun und Ypern etwa oder an Marne und Somme. Trotzdem ruhen Hunderte Opfer dieses monströsen Blutvergießens in Essen: auf dem Ehrenfriedhof in Fulerum, der zum Südwestfriedhof, dem zweitgrößten dieser Stadt, gehört. Auch zwei zivile Opfer sind darunter. Ein unauffälliges Denkmal mit einer kaum noch lesbaren Inschrift erinnert an den ersten alliierten Bombenangriff auf Essen im Ersten Weltkrieg. Ein fast in Vergessenheit geratenes Ereignis, bei dem am 24. September 1916 zwei spielende Mädchen ums Leben kommen: die Schwestern Ella (9) und Emma (5) Stuinies. Unschuldige Opfer, die zur falschen Zeit an der falschen Stelle waren.
Der Essener Hobbyhistoriker Eberhard Sauerbrei hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Er möchte ein großes Gedenk- und Erinnerungsbuch anlegen, in dem die Namen aller Opfer des Ersten Weltkriegs aus Essen eingetragen sind: vom einfachen deutschen Füsilier bis zum russischen Kriegsgefangenen.
Inschrift im Gedenkstein lautet: „Den Fliegeropfern am Wasserturm 1916“
Jetzt, nur wenige Tage vor dem Volkstrauertag, steht er auf dem Ehrenfriedhof vor dem verwitterten und Efeu berankten Gedenkstein, der ursprünglich sogar mit einer steinernen Bombe als dekorativem Beiwerk versehen war.
Sauerbrei deutet auf die Inschrift „Den Fliegeropfern am Wasserturm 1916“. Darunter sind übrigens nicht nur die Namen der Geschwister eingraviert, sondern auch der des Vaters (Wehrmann Franz Stuinies vom Landwehr Infanterieregiment 57) und eines vierten angeblichen Opfers (Franz Wozniak). Doch Sauerbrei korrigiert sofort: „Franz Stuinies ist tatsächlich schon mehrere Monate vorher gefallen und Franz Wozniak hat den Fliegerangriff überlebt.“
Der 24. September 1916: Zeitzeuge Karl Sabel, ein damals junger Journalist, erinnert sich fast fünfzig Jahre später – in einem Zeitungsbericht vom August 1964 – an einen „friedlichen Sommertag mit blauem Himmel“. In seiner Wohnung in der Neckarstraße in Bergerhausen vernimmt er gegen 14 Uhr „das Geräusch einer hochfliegenden Maschine“ und „plötzlich ein scharfer Knall“. Er sieht eine Rauchwolke in Richtung Huttrop, dann hört er weitere Explosionen.
Frankreich ernennt Piloten des Essen-Fluges zum „Ritter der Ehrenlegion“
An Bord des französischen Flugzeugs sitzen Leutnant Daucourt und Hauptmann de Beauchamps, der laut Essener Stadtchronik für seinen Essen-Flug später zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen wird. Französische Zeitungen berichten, dass der Flieger nahe Verdun aufgestiegen sei und sich lediglich an den Flüssen Mosel, Rhein und Ruhr orientiert habe. Sein eigentliches Ziel, die Krupp-Fabriken, habe er jedoch nicht getroffen.
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Die beiden Piloten werfen die leichten Bomben offenbar mit der bloßen Hand über der Ruhrgebietsstadt ab, unten stehen die Essener staunend vor den Schäden, die die neuartigen Sprengkörper anrichten. „Nahe der Wirtschaft ‘Zum Schwanenbusch’ war die erste Bombe gefallen, in ein Feld mit Runkelrüben“, berichtet Sabel.
Zum ersten Mal erblickt er einen Bombentrichter – „eine Mulde wenig mehr als zwanzig Zentimeter tief“. Auch ein Geschäftshaus auf der Steeler Straße sei getroffen worden. „Die Wand zum Laden eingedrückt, die Rabitzdecke zerbröckelt, die Möbel durcheinander“, notiert der Chronist.
Zensor mit dem Rotstift: „Hier, junger Mann, interessant, aber nichts für die Zeitung.“
Der Altenessener Eberhard Sauerbrei hat bei seinen akribischen Recherchen herausgefunden, dass die neun Jahre alte Ella Stuinies laut Sterbeurkunde bereits am Tag des Bombenangriffs gestorben ist. „Ihre Schwester Emma hat noch mehrere Tage mit Tod gerungen, sie ist am 5. Oktober im Elisabeth-Krankenhaus gestorben.“
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Tote bei Bombenangriff auf Essen – solche Negativ-Meldungen hätten die Moral der gereizten und hungernden Bevölkerung womöglich empfindlich dämpfen können. Wohl deshalb erscheint in der „Rheinischen Westfälischen Zeitung“ in Essen übrigens keine einzige Zeile des Berichts, den der junge Journalist damals rasch zu Papier bringt. „Der Rotstift des Zensors blies ihm das Leben aus“, erinnert er sich sich. Ein gewisser Polizeirat Exner, seines Zeichens Zensurbeauftragter des Generalkommandos am Pferdemarkt, sei mit dem Rotstift über die drei Blätter gefahren, habe sie gefaltet und Sabel gesagt: „Hier, junger Mann, interessant, aber nichts für die Zeitung.“