Essen. Angezeigt werden wenige Fälle. Doch an die Frauenberatung Essen wenden sich immer wieder junge Frauen, die Angst vor einer Zwangsheirat haben.

Nach dem Ende der großen Ferien könnten auch in Essener Klassenräumen einige Plätze leer bleiben: Weil junge Frauen in ihren Heimatländern verheiratet worden sind. Die Zahl der Zwangsverheiratungen nehme in den Sommerferien regelmäßig zu, sagen Hilfsorganisationen. Die betroffenen Mädchen seien zwischen 16 und 21 Jahre altund hätten oft türkische oder arabische Wurzeln, andere stammten vom Balkan oder aus kurdischen Gebieten.

Allerdings kommt es nur selten zur Anzeige: Bundesweit weist die Kriminalstatistik für das vergangene Jahr lediglich 67 Zwangsehen aus. Fachleute vermuten, dass die Dunkelziffer ungleich höher ist. Deutlich mehr suchen Beratungsstellen auf: So erfasste eine Studie des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2008 fast 3500 Beratungen. Auch die Frauenberatung Essen weiß aus ihrer Praxis, dass die Mädchen oft den Gang zur Polizei scheuen.

Bloß keine Polizei! – Die Mädchen wollen ihre Familie nicht verlieren

So ist der Essener Polizei aktuell kein Fall von Zwangsverheiratung bekannt, und die zuständigen Kollegen könnten sich auch an keinen aus der jüngeren Vergangenheit erinnern, erklärt eine Polizeisprecherin auf Anfrage. Beim Jugendamt hat man zumindest „keine Häufung“ der Fälle während der Sommerferien erlebt. Im Laufe der Jahre habe es allerdings Einzelfälle von Zwangsverheiratung gegeben, „in denen das Jugendamt zum Teil auch Mädchen in Obhut genommen hat“, sagt Jugendamtssprecherin Stefanie Kutschker.

Mit Hilfe des Jugendamtes könne man tatsächlich Druck auf die Familien aufbauen, sofern die betroffenen Mädchen noch minderjährig sind, bestätigt Sozialpädagogin Cordula Hißmann von der Frauenberatung Essen. Zumal die Eltern fürchten müssten, im schlimmsten Fall auch das Sorgerecht für die Geschwister zu verlieren. „Wir beziehen das Jugendamt und die Polizei nur ein, wenn das Mädchen einverstanden ist. Doch die wenigsten wollen ‘raus aus ihrer Familie.“

Manchen wird eine Urlaubsreise vorgegaukelt – geplant ist eine Hochzeit

Den Weg zur Frauenberatung aber finden einige Betroffene, oft begleitet von einer Freundin, einer Lehrerin oder einer Sozialpädagogin aus ihrem Umfeld. Eine „kleine Häufung der Fälle“ gebe es vor den Sommerferien, wenn manchen Mädchen offen gesagt wird, dass sie im Heimatland der Eltern etwa mit einem Cousin verlobt oder verheiratet werden sollen. „Anderen wird ein Urlaub in der Türkei oder einem arabischen Land vorgegaukelt, aber sie ahnen, dass sie verheiratet werden sollen“, sagt Cordula Hißmann.

Sozialpädagogin Cordula Hißmann von der Frauenberatung Essen.
Sozialpädagogin Cordula Hißmann von der Frauenberatung Essen. © Funke Foto Services | Kerstin Kokoska

Denn oft bahne sich eine solche Ehe just dann an, wenn das Mädchen versuche, aus den strikten patriarchalischen Strukturen der Familie auszubrechen. Wenn es eine neue Eigenständigkeit entwickle, einen Beruf ergreifen oder sich westlich kleiden wolle. Es gebe Mädchen, die so abgeschottet leben, dass sie sofort nach der Schule nach Hause kommen müssen. „Da reicht es, wenn die plötzlich Kontakte nach außen pflegen oder im Gespräch mit einem Mann gesehen werden.“ Habe die Tochter gar einen Freund, sei das für die Eltern ein Alarmsignal, besonders wenn der junge Mann der Familie nicht genehm sei. „Es geht dann darum, die junge Frau noch ehrbar zu verheiraten.“

Jeder Fall liege natürlich anders, doch die genannten Faktoren seien häufig zu beobachten. Ebenso, dass die Mädchen ihr Handy abliefern müssen und die Brüder als ihre Bewacher eingesetzt werden. Klar, dass die Betroffenen nur heimlich in die Frauenberatung kommen können. „Zuerst klopfen wir ab, wie gefährdet das Mädchen ist – und ob es mit der Familie im Gespräch bleiben möchte.“

Manchmal hilft schon ein Gespräch mit der Familie

Es gebe durchaus Familien, die recht gut integriert und ansprechbar seien. Mitunter reiche es, wenn die Tochter den Mut fasse, deutlich auszusprechen, dass sie die geplante Ehe nicht wolle. In anderen Fällen helfe der Hinweis, „dass auf Zwangsverheiratung bis zu fünf Jahre Haft stehen“. Manche stimmen sogar zu, dass die Tochter die Familie kurzzeitig verlässt, oder unterschreiben, dass sie weiter zur Schule gehen darf und nicht verheiratet wird. Auch eine in der Familie anerkannte Autoritätsperson könne die Eltern bisweilen umstimmen. Dagegen scheuten einige Mädchen, interkulturelle Vermittler hinzuzuziehen, „weil sie Angst haben, dass die zu sehr in der Community vernetzt sind und sich mit den Eltern solidarisieren könnten“.

Cordula Hißmann berichtet auch von Notlügen und Legenden, die die Frauenberatung gemeinsam mit anderen Stellen entwickelt habe, um die geplante Ehe oder auch schon die Reise ins Heimatland zu verhindern. Solchen Strategien hier auszubreiten, wäre wohl kontraproduktiv. Sie hat schon erlebt, dass Eltern die Pläne des Mädchens erahnten: „Prompt saß die zwei Tage später im Flugzeug in die Türkei.“

Junge Frauen, die bedroht werden, finden in Mädchenhäusern Zuflucht

In krassen Fällen werden die Mädchen zu Hause eingeschlossen oder müssen nach der erzwungenen, oft mit Gewalt vollzogenen Ehe gleich im Heimatland bleiben, Pass und Smartphone abgeben. Sie rate daher den Betroffenen, wichtige Telefonnummern zu notieren und mit den Helfern in Deutschland Codewörter zu vereinbaren. Das mag nach Krimi klingen, doch der Frauenberatung sei es so schon gelungen, eine junge Frau aus dem Ausland zurückzuholen – auch mit Hilfe von Spenden.

Andere Mädchen, die von der Familie mit dem Tod bedroht worden seien, hätten schon in Essen die Flucht gewagt und Unterschlupf in den Mädchenhäusern in Bielefeld oder Düsseldorf gesucht. Bitter: Oft sei es gar nicht so einfach, diese Maßnahmen für die Mädchen zu finanzieren.

Cordula Hißmann betont, dass sich im Jahr nur „eine Handvoll“ Betroffener wegen einer drohenden Zwangsverheiratung an die Frauenberatung Essen wende. Doch mitunter kämen Frauen nach häuslicher Gewalt in die Beratungsstelle und berichteten, dass schon die Eheschließung erzwungen war. Manchmal sei schon die große Schwester verheiratet worden, so dass die jüngeren Mädchen zumindest als gefährdet einzustufen seien. „Zwangsehen sind noch weiter verbreitet, als wir das vermuten.“

Schulleiterin geht von wenigen Einzelfällen aus

Fragt man Julia Gajewski, Leiterin der mit rund 1500 Schülern größten Essener Gesamtschule, der Bockmühle in Altendorf, fallen ihr ein paar Mädchen ein, „die mit 18 überraschend von der Schule abgemeldet wurden“. Sie ist auch einmal einer ehemaligen Schülerin begegnet, die kurz nach dem Abi geheiratet hatte, plötzlich ein Kopftuch und ganz andere Einstellungen hatte. „Das hat mich schockiert.“

Die Entwicklung von Parallelgesellschaften macht ihr Sorge: Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle.
Die Entwicklung von Parallelgesellschaften macht ihr Sorge: Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle. © FFS | NN

Julia Gajewski betont jedoch, dass sie sich aus ihren 20 Jahren an der Schule maximal an ein, zwei Fälle von Zwangsverheiratung erinnern könne. „Für mich ist das Thema eher allgemein die Entwicklung von Parallelgesellschaften. Ich finde es schwierig, wenn eine Familie in vierter Generation hier lebt, zu Hause nur Türkisch spricht und kaum Deutsch beherrscht.“ Das verhindere Bildung und gesellschaftliche Teilhabe. „Und wer arm ist und keine Perspektive hat, dem bieten enge, traditionelle Wertvorstellungen Sicherheit.“

Ja, es gebe die Jungs, die sagen: „Ich such’ mir eine Frau aus und heirate die. Fragen tu’ ich sie nicht.“ Julia Gajewski gefällt das nicht – doch sie sieht eine solche Aussage auch als Chance für ein Gespräch.