ESSEN. In Essen werden seit Jahren Patienten mit Zitteranfällen behandelt. Ein Gespräch mit dem Experten Professor Diehl über Hintergründe und Therapien

Das Zittern der Kanzlerin hat dem Thema enorme mediale Aufmerksamkeit beschert. Im Verlauf der öffentlichen Debatte wurde klar, so selten ist das Phänomen gar nicht. Wir sprachen mit Professor Rolf Diehl, der an der Essener Krupp-Klinik dazu forscht und Patienten mit solchen Symptomen behandelt.

Frau Merkels Zittern bei Staatsempfängen hat für viele Diskussionen um ihren Gesundheitszustand gesorgt. Die Schriftstellerin Siri Hustvedt hat in ihrem viel beachteten Roman „Die zitternde Frau“ eine Art Selbstdiagnose geschrieben. Häufig bleiben die Erklärungen für solche Phänomene allerdings vage. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Krankheitsbild. Wie verbreitet sind solche Zitteranfälle – könnte es zum Beispiel auch mich im Alltag treffen?

Professor Rolf Diehl: Zittern oder was Mediziner vornehmer Tremor nennen hat viele Gesichter und viele mögliche Ursachen – nehmen wir alle Tremorformen zusammen, so ist Zittern bei unseren Mitmenschen gar nicht so selten anzutreffen. Zumeist ist dieses Zittern aber wie etwa bei der Parkinsonkrankheit ein permanentes Problem und zeigt sich nicht nur gelegentlich in Form eines kurzen Anfalls. Solche Zitterattacken wiederum sind tatsächlich ein eher seltenes Problem. Man darf sie sich aber nicht wie eine Hustenattacke vorstellen, die über einen kommt und dann vergeht. Derartigen Zitterattacken liegt zumeist eine Veranlagung zugrunde. Das heißt, unter ähnlichen Bedingungen können sie sich wiederholen. Insofern wird Sie wahrscheinlich keine Zitterattacke heimsuchen, wenn Sie die Veranlagung nicht haben.

Welches sind denn die häufigsten Ursachen für die genannten gelegentlichen Zitteranfälle?

Diehl: Ich denke, die häufigste Ursache von solchen punktuellen Tremorattacken sind soziale Ängste. Viele Menschen reagieren mit starker Aufregung, wenn sich die Aufmerksamkeit vieler auf sie richtet, etwa bei Auftritten vor größeren Publikum. Man beobachtet dann oft, dass die Hände und das von ihnen gehaltene Manuskript zittern. Eine ganz andere Ursache für Zitteranfälle sind Blutdruckabfälle im Stehen.

Wenn ich es jedoch richtig verstanden habe, handelt es sich bei diesem speziellen Phänomen, mit dem Sie sich seit Jahren am Krupp-Klinikum beschäftigen, um eine nervlich basierte Fehlreaktion des Kreislaufs bei längerem Stehen. Wem passiert sowas – und was passiert dem Menschen, den es trifft?

Diehl:

Prof. Rolf Diehl ist  Neuropsychologe und Leiter des Neurologischen Studienzentrums am Alfried Krupp Krankenhaus.
Prof. Rolf Diehl ist Neuropsychologe und Leiter des Neurologischen Studienzentrums am Alfried Krupp Krankenhaus. © von Born / Funke Foto Services

Es handelt sich meist um Patienten, die auf dem Boden einer neurologischer Erkrankung wie einer Polyneuropathie auch eine Schädigung des wichtigsten vegetativen Nerven, des Sympathikusnerven, erleiden. Dieser ist unter anderem für die Gefäßverengung zuständig, zu der es kommt, wenn beim Stehen viel Blut in den Beinvenen versackt. Mit der Gefäßverengung verhindert der Sympathikus, dass der Blutdruck im Stehen nennenswert abfällt. Bei einer Sympathikusfehlfunktion funktioniert dieses Regulativ nicht richtig, und der Blutdruck kann dramatisch abfallen. Dies führt eben oft zu Zittern, meist aber auch starker Benommenheit und mündet nicht selten in einer Ohnmacht.

Das wirkt auf den ersten Blick dramatisch, klingt aber unterm Strich so, als ob man das Erscheinungsbild relativ gut medikamentös oder durch so einfach Mittel wie Stützstrümpfe auflösen kann. Wie wird therapiert? Und wie groß sind die Erfolgsquoten?

Diehl: Oft reichen einfache Maßnahmen wie ausreichende Trinkmengen oder die von Ihnen genannten Stützstumpfhosen aus. In schwereren Fällen sind Medikamente erforderlich, die die Arbeit des ausgefallenen Sympathikusnerven übernehmen müssen. Manche Patienten schaffen aber Anfallsfreiheit auch dadurch, dass sie Stehen konsequent vermeiden. Einer meiner Patienten hat immer einen Spazierstock mit ausklappbarem Sitz dabei, sobald er stehen muss, setzt er sich drauf. Nur selten ist die Erkrankung so ausgeprägt und therapieresistent, dass die Betroffenen ihre Mobilität ganz verlieren.

Wenn ich an mir solche Symptome bemerke, wie sollte ich reagieren?

Diehl: In der akuten Situation würde man sich natürlich zuerst einmal setzen. Ein Hausarzt kann dann Blutdruckmessungen im Liegen und Stehen durchführen. Das ergibt möglicherweise erste Hinweise.

Sie haben an der Krupp-Klinik eines spezielles Diagnoseverfahren für solche Fälle: die Kipptischtestung. Was muss man sich darunter vorstellen?

Diehl: Ein Kipptisch bietet eine standardisierte Untersuchungssituation für das Stehen. Der Patient wird dabei für seine Sicherheit an einer Liege, die in die Senkrechte gekippt werden kann, festgeschnallt. Im Labor können dann verschiedene Körperfunktionen wie der Blutdruck, der Puls und die Hirndurchblutung in Reaktion auf den Stehvorgang durchgehend gemessen werden. Dabei können zum Beispiel die typischen Veränderungen, die sich aus einer Sympathikusstörung ergeben, identifiziert und eine entsprechende Verdachtsdiagnose kann so gesichert werden.

Gibt es noch andere Formen von Zitteranfällen, die wie bislang bei der Bundeskanzlerin vornehmlich im Stehen auftreten?

http://Wie_Angela_Merkel_der_wohl_wichtigsten_Frage_ausweicht{esc#226535505}[news]Diehl: Ja, es gibt einen ausschließlich im Stehen auftretenden sogenannten orthostatischen, das heißt den aufrechten Stand betreffenden Tremor, der ebenfalls attackenartig auftritt und hauptsächlich die Beine, manchmal auch die Arme und Hände betrifft. Dieses Zittern ist zwar unangenehm für die Betroffenen, ist aber nicht gefährlich oder mit ernsten Erkrankungen verbunden. Die Ursache ist noch ungeklärt, ausgeschlossen werden kann aber eine Kreislaufstörung. Man kann die Diagnose sichern, indem man die elektrische Aktivität verschiedener Muskeln an Armen und Beinen über eine längere Stehphase auf dem Kipptisch ableitet.

Sollte die Kanzlerin also künftig weiterhin unter Zitteranfällen leiden, wäre eventuell ein Besuch auf dem Kipptisch der Krupp-Klinik angezeigt.

Diehl: Ich hatte zwar keine Gelegenheit, Frau Dr. Merkel zu untersuchen - und Ferndiagnosen verbieten sich. Legt man jedoch die bekannten Videos zugrunde, könnte es gut sein, dass sie unter dieser gutartigen und erfreulicherweise in vielen Fällen gut behandelbaren Tremorform leidet.