Essen. Mit den Plänen, das Widia-Werk zu schließen, mag sich der Betriebsrat nicht abfinden. Er will verhandeln – und hat dafür mehr Zeit als gedacht.
Am Donnerstagmorgen hatte in Pittsburgh/Pennsylvania jemand auf den Knopf gedrückt. Es war 6.45 Uhr Ostküstenzeit der USA, und was dann als Neuigkeit durch die Leitungen jagte, machte ein paar hundert Metallarbeiter im 6435 Kilometer entfernten Essen schier fassungslos. „Wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird“, so beschreibt Peter Wunderlich, Betriebsrats-Vorsitzender von Kennametal Widia, noch tags darauf die Stimmung in der entsetzten Belegschaft: Widia soll dicht machen.
Die Rechtfertigung aus der Zentrale klingt für sie dabei wie Hohn: „Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind schwierig, aber notwendig“, lässt sich da Christopher Rossi zitieren, Vorstandschef der börsennotierten Mutterfirma Kennametal Inc. Es
gehe darum, „strukturelle Verbesserungen zu erzielen, die operative Effizienz weiter zu verbessern und den Wert für die Aktionäre weiter zu steigern“.
Von einst 900 Jobs sind noch knapp 400 übriggeblieben
Sorge um ihre Jobs sind sie bei Widia, dem traditionsreichen Hersteller für Hartmetallwerkzeuge (Widia = Wie Diamant) durchaus gewohnt, erst recht, seit Amis die einstige Krupp-Tochter übernahmen: erst 1994 Cincinnati Milacron, dann 2002 Kennametal. Von damals gut 900 Mitarbeitern sind bis heute nur noch knapp 400 übrig geblieben, aber die wähnten sich wegen der hohen Spezialisierung, nach einigen Investitionen im Werk und angesichts von Bestwerten im konzerninternen Ranglisten halbwegs sicher. Und schließlich: Im Holsterhauser Werk machen sie ja auch Gewinn.
Allerdings, so scheint es, zu wenig, um das Mutter-Unternehmen zufriedenzustellen: Eine „vereinfachte und schlankere Struktur“ hat Kennametal als Ziel formuliert, hat sich ehrgeizige Finanzziele gesetzt, und dazu gehört, dass ein US-amerikanisches Werk in Irwin/Pennsylvania ebenso wie drei deutsche Standorte dicht gemacht werden sollen. Essen ist mit seinen knapp 400 Jobs im Drei-Schicht-Betrieb der größte.
Für den Erhalt des Standortes müssen wohl die Kosten runter
Was den ehemaligen Betriebsrats-Vorsitzenden und Noch-Aufsichtsrat Wolfgang Freye ungläubig mit dem Kopf schütteln lässt, ist der Umstand, dass das Kennametal-Management „überhaupt keine Alternativen“ aufzeige. Oder sind sie im vorletzten Absatz der Verlautbarung von Donnerstagfrüh zu finden? Dort heißt es, die Schließungspläne seien „abhängig von den Verhandlungen mit den jeweiligen Arbeitnehmervertretern“.
Freye schwant, dass für einen Erhalt des Standortes die Kosten erheblich heruntergeschraubt werden müssten, mit einer weitere Automatisierung der Produktion, vielleicht auch mit massiven Zugeständnissen der Mitarbeiter. „Das hat natürlich Grenzen“, sagt der Ex-Betriebsratschef, der für die Linkspartei im Rat sitzt, aber angesichts fehlender Vorgaben und Zahlen bleibt derzeit nur zu spekulieren.
Schon einmal ist eine Produktions-Verlagerung gescheitert
Immerhin, aussichtslos glaubt er den Kampf für einen Erhalt nicht: Anders als zunächst befürchtet, stehen die Schließungen bei Widia nicht zwingend bis Juni 2020 im Raum. Sie würden, so kündigt das Unternehmen an, „voraussichtlich in den nächsten zwei Jahren durchgeführt“. Bis Ende 2021 also, vielleicht auch länger – das gäbe Luft für Verhandlungen. Die Unterstützung eines Rechtsanwaltes und einer Wirtschaftsberatung hat man sich im Betriebsrat bereits gesichert, um an Auswegen aus dem Kahlschlag zu basteln.
Oberbürgermeister will sich einsetzen
Oberbürgermeister Thomas Kufen zeigte sich am Freitag alarmiert von den Schließungs-Plänen für das Widia-Werk. Er erinnerte daran, dass Teile des Produktions-Standortes vor zwei Jahren schon einmal auf der Kippe standen. Wie damals werde er sich auch jetzt „persönlich sowie gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung einbringen, um die drohende Schließung abzuwenden und Arbeitsplätze in Essen zu erhalten“.
Und vielleicht, so heißt es, helfe ja auch, daran zu erinnern, dass schon einmal Verlagerungs-Pläne grandios scheiterten: Als die Produktion von Wendeschleifplatten in die USA verlagert wurde, sei der Ausschuss von Präzisionswerkzeugen, bei denen es mitunter auf ein Tausendstel Millimeter Genauigkeit ankommt, so hoch gewesen, dass man lieber wieder auf die teurere Arbeit in Essen zurückgriff. Und als für eine Weile auf den Markennamen Widia verzichtet und die Produktion nur unterm Kennametal-Logo verkauft wurde, habe es massive Umsatzeinbrüche gegeben.
Als die Pläne öffentlich werden, geht der Aktienkurs nach oben
Ob dies abschreckt, ist fraglich. Künftig soll die Produktion in Solon/Ohio und im chinesischen Tianjing erfolgen. Zu günstigeren Konditionen, versteht sich: Insgesamt erhofft sich Kennametal von der Umstrukturierung jährliche Einsparungen von 35 bis 40 Millionen US-Dollar im nächsten und weiteren 25 bis 30 Millionen im übernächsten Jahr. Auch der Aktienkurs des an der New Yorker Börse gelisteten Unternehmens hatte zuletzt gelitten – und machte nach Bekanntwerden der Kürzungspläne tatsächlich einen kleinen Satz nach oben: plus drei Prozent.
Der Betriebsrat appelliert: „Lasst den Kopf nicht hängen“
Angesichts der Tatsache, dass mit Widia einer der größten Produktionsbetriebe der Stadt vor dem Aus steht, erhofft sich die IG Metall auch Unterstützung aus der Politik und von der Wirtschaftsförderung. Einen Laden, der Gewinn abwirft, dicht zu machen, das wäre doch „völlig unverständlich“, klagt IG Metall-Sekretär Markus Ernst.
„Lasst den Kopf nicht hängen“, appelliert also der Betriebsrat an die Kollegen, und die US-Mutter signalisiert Verhandlungsbereitschaft, wie weit auch immer: „Wir erkennen die Auswirkungen auf unsere Mitarbeiter und werden eng mit ihren Vertretern zusammenarbeiten, um sie bei diesem Übergang zu unterstützen“, sagt Vorstandschef Rossi.
Wohin die Reise geht, erweist sich erstmals ab Dienstag. Dann tritt der Wirtschaftsausschuss zusammen.