Essen. Gut 70.000 Briefwahlanträge zur Europawahl: Rekord, sagt Essens Wahlamt, doch in die Freude über so viel politische Teilhabe mischen sich Sorgen.

Für seine erste Wahlprognose reichte ihm der gelegentliche Blick auf den Flur. War ganz schön was los im Wahlamt am Kopstadtplatz: Gut 8000 Essener hat Rüdiger Lohse dort in den vergangenen Tagen kommen, Kreuzchen machen und gehen sehen. Gemeinsam mit den verschickten Unterlagen notierte seine Briefwahl-Statistik am Freitagabend eine Zahl jenseits der 70.000er Marke. Es wird wohl ein neuer Rekord werden, aber bei allem Zuspruch für politische Teilhabe – so richtig freuen mag Wahl-Organisator Lohse sich darüber nicht.

Sieht die Entwicklung bei der Briefwahl mit Sorge: Wahl-Organisator Rüdiger Lohse vom Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen.
Sieht die Entwicklung bei der Briefwahl mit Sorge: Wahl-Organisator Rüdiger Lohse vom Amt für Statistik, Stadtforschung und Wahlen. © FFS | Foto: Ulrich von Born

Denn die Ausnahme wird mehr und mehr zur Regel; das gut gemeinte Entgegenkommen für Alte, Kranke und Verreiste, den eigentlichen Wahltermin zu meiden und die Stimme stattdessen vorab hinter sich zu bringen, gerät zum Akt der Bequemlichkeit. Wogegen nichts einzuwenden wäre, sagt Lohse, würden da nicht Wahlprinzipien hintenrum aufgeweicht.

Frei und geheim? „Man muss schon dran glauben“

Freie und geheime Wahl? Wenn der Wahlschein einmal per Post raus ist, gibt’s da nichts mehr zu kontrollieren. „Man muss schon dran glauben“, dass kein Schindluder getrieben wird, wenn der Stimmschein am Küchentisch ausgefüllt wird: „Sichergestellt ist das allein in der Wahlkabine.“

Hinzu komme der Umstand, dass wochenlange Lücken zwischen den Stimmabgaben klaffen. Rüdiger Lohse findet das mindestens unglücklich.

Die Kehrseite der Medaille: eine schwache Wahlbeteiligung

Doch wie auch der Bundeswahlleiter, der jüngst die gleichen Bedenken äußerte, weiß Lohse um die Kehrseite der Medaille: „Mit einer wie auch immer eingeschränkten Briefwahl würde man eine spürbar niedrigere Wahlbeteiligung riskieren.“ Und damit eine geringere Legitimierung der Gewählten.

Wie das aussehen kann, hat man im Essener Wahlamt bei den Europawahlen 1999, 2004 und 2009 gesehen: Da gaben nicht einmal 40 Prozent der Essener ihr Kreuzchen. Dass die Beteiligung 2014 wieder auf über 47 Prozent hochschnellte,

täuscht: An jenem Mai-Sonntag fanden zeitgleich die Kommunalwahlen statt. Zum Vergleich: Bei der Europawahl-Premiere 1979 trieb es beinahe zwei Drittel der Wahlberechtigten zur Urne.

Jede dritte Stimme per Briefwahl? Das wäre ein neuer Rekord

An diesen Wert wird man anno 2019 wohl nicht heranreichen. Doch Wahl-Organisator Lohse, der seit Ende der 1990er Jahre amtlicherseits bei den Wahlen mitmischt, wagt sich an eine Voraussage: „Bei knapp 51 Prozent“ werde die Wahlbeteiligung wohl landen, der beste Wert seit 20 Jahren.

Und womöglich jede dritte Stimme hatte er schon vor dem Sonntag im Kasten. Auch das wäre ein Höchstwert. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, das überlässt er dann aber doch lieber der Politik.