Essen. . Laith (7) aus Essen hat einen spektakulären Fenstersturz ohne Folgeschäden überlebt. Unfallchirurgen der Uniklinik haben seine Brüche geheilt.
Ein kleiner Junge, damals gerade vier Jahre alt, stürzt 2016 in Essen aus einem Fenster in der vierten Etage und schlägt Sekundenbruchteile später unten auf dem gepflasterten Gehweg auf. Zwölf Meter liegen zwischen dem Fenster oben und den Betonplatten unten. Zwölf Meter, die tödlich hätten sein können.
Doch der kleine Laith, inzwischen sieben, hat diesen schrecklichen Unfall überlebt. Und das sogar ohne Folgeschäden. „Ein Fall, der Mut macht“, sagt Professor Marcel Dudda, Direktor der Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Essen. „Ein kleines Wunder“, freut sich seine Mutter Lama Al Basha.
Ein Blick zurück: Es ist ein Sommertag im Juli vor drei Jahren. Die junge syrische Familie, die ihre Heimat wegen des Bürgerkriegs verlassen hat, wohnt in der Alfredistraße. „Mein Mann saß im Wohnzimmer, er hörte ein dumpfes Geräusch und schaute neugierig nach draußen“, erinnert sich die Mutter. Als er dort unten einen kleinen Jungen mit gelben Shorts liegen sieht, durchfährt ihn ein Schauer. „Mir kommt das heute alles vor wie ein schlechter Traum“, berichtet die Mutter. Sie sei ins leere Kinderzimmer gestürzt und habe schreiend vor dem weit offenen Fenster gestanden.
Mutter beruhigt ihr Kind: „Wir retten dich, alles wird gut“
Wenig später hält sie unten auf dem Bürgersteig der Alfredistraße das schwerstverletzte Kind in ihren Armen: „Mein Junge blutete überall.“ Einheimische hätten jetzt wohl vorschriftsmäßig den Feuerwehrnotruf 112 alarmiert und auf den Rettungswagen gewartet. Aber sie will keine Sekunde warten und hält verzweifelt das nächste Auto an: am Steuer eine verständnisvolle Mazedonierin, die Mutter und Sohn mitnimmt.
„Sie raste bei Rot über die Ampel und brachte uns zum nächsten Krankenhaus.“ Erst von dort geht’s weiter zur Unfallchirurgie des Uniklinikums – jetzt im RTW. Es sind herzzerreißende Szenen, ein Ringen um Leben und Tod. Das blutende Kind schreit und die Mutter versucht, es zu beruhigen: „Wir retten dich, alles wird gut.“
Wenn sich der Chefarzt heute die ersten Röntgenaufnahmen von damals anschaut, schüttelt er den staunend Kopf. „Man erschreckt, wenn man sieht, was alles kaputt gegangen ist.“ Alle drei Monate kommt Laith mit seiner Mutter in Marcel Duddas Sprechstunde. Ein hübscher, aufgeweckter Junge mit großen Augen, schüchtern und still, ab und zu huscht ihm ein scheues Lächeln übers Gesicht.
Zertrümmerter Schenkel, Schädelbasisbruch, gequetschte Lungenflügel
Dudda zitiert aus dem Unfallbericht und schon vom bloßen Zuhören schnürt sich der Kehlkopf zu. „Der linke Unterschenkel und der Fuß völlig zertrümmert, offener Schädelbruch, gebrochene Nase, Schädelbasisbruch, Beckenfraktur, Wirbelsäulenfraktur, beide Lungenflügel gequetscht.“
Vor 30, 40 Jahren wäre ein derart schwerer Unfall entweder tödlich ausgegangen oder er hätte zumindest eine dauerhafte körperliche Behinderung verursacht. Ein zu kurzes Bein vielleicht. „Dank der modernen Unfallmedizin von heute ist jedoch gar nichts zurückgeblieben“, sagt der Chirurg. Nun, es gibt eine große und lange Narbe am Schädel, aber Laiths Locken verbergen sie.
Ärzte vieler Disziplinen beugen sich über den Patienten
Die Verwandtschaft daheim in Damaskus schwärme von den Heilkünsten der deutschen Ärzte, berichtet Lama Al Basha. Und fügt bekräftigend hinzu: „In Syrien hätte Laith diesen Sturz niemals überlebt.“ Professor Dudda gibt das Kompliment weiter an die vielen Spezialisten, die sich nach dem gruseligen Fenstersturz über den kleinen Patienten gebeugt haben: zuerst die Notfallmediziner in der Ambulanz und die Intensivmediziner auf der Station, die Anästhesisten und Radiologen, später die Unfall- und die Neurochirurgen, die Kinderärzte und Kinderintensivmediziner sowie psychologische Betreuer.
Fast ein Dutzend Knochen waren gebrochen. Sie wieder zu richten, erfordert viel handwerkliches Geschick.In der Unfallchirurgie wird gebohrt und gehämmert, gedrückt und eingerichtet, und über ein äußeres Gestell schienen sie Laiths zertrümmertes Bein. „Dass er so da raus gekommen ist, ist der Wahnsinn“, resümiert Dudda.
Der Erstklässler sagt: „Mathe ist mein Lieblingsfach“
In der Münster-Grundschule, so die Mutter, hätten sie viel Freude an dem genesenen Jungen, der außerdem mit Bestnoten überrasche. „Mathematik ist mein Lieblingsfach“, erzählt der Erstklässler mit leiser Stimme. Und der Schulsport? „Ich renne vorne mit“, erwidert er stolz.
Die Rekonstruktion des Unfalltages ergibt folgendes Geschehen. Der Junge habe das Martinshorn in Alfredistraße gehört und sei neugierig geworden. „Er hat das Fenster geöffnet und dabei wohl den Halt verloren“, berichtet die Mutter. Vorwürfe mache sie sich selber nicht. Aber nach dem Unfall habe sie im Baumarkt Kindersicherungen gekauft und auf die Fensterrahmen geschraubt. Auch um das drei Jahre alte Töchterchen Mela zu schützen.
Lama Al Basha ist davon überzeugt, dass ihre Mutterliebe dem leidenden Jungen viel Energie gegeben hat. Trotz des Happyends sitze der Schock über Laiths Unfall immer noch tief. „Laith braucht nur eine kleine Erkältung zu haben und schon bin ich besorgt.“
>>> KINDERTRAUMAKONGRESS AUF ZOLLVEREIN
- Die Welterbe-Zeche Zollverein ist am 24./25. Mai Veranstaltungsort für die 38. Jahrestagung der Sektion Kindertraumatologie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.
- Hunderte Unfallchirurgen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz werden daran teilnehmen.
- Prof. Dr. Marcel Dudda, ein gebürtiger Essener, wird auf dem Kindertraumakongress auch über den ungewöhnlichen Fall Laith berichten.