Essen. . Einmal Tramfahrer sein: Marvin Sefczik (15) fährt die Linie 109. Nach unserem Bericht lädt die Ruhrbahn den geistig behinderten Jugendlichen ein.

„Alle einsteigen“, ruft Marvin Sefczik, bevor der Klingelton ertönt, er den Hebel vorsichtig nach vorn schiebt und die Straßenbahn anfährt: Der 15-Jährige ist an diesem Nachmittag der Tramfahrer. In der Fahrerkabine seiner Lieblingslinie 109 hat sich der große Wunsch des geistig behinderten Jugendlichen erfüllt. Nach dem Bericht unserer Redaktion hat die Ruhrbahn Marvin eingeladen, einige Runden auf dem Betriebsgelände zu drehen.

Marvin zur Seite steht Fahrmeister Martin Floß und erklärt seinem Fahrschüler zunächst die Funktionen des Hebels und die Zeichen auf dem Bedienfeld. Der Jugendliche hört aufmerksam zu, ohne dass das Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet, öffnet und schließt Türen, stellt die Kamera auf den Innenraum ein und startet. „Vorn blinken, langsam in 0 rollen lassen“, lauten die Anweisungen des Fahrmeisters, der am Fahrerpult steht und jederzeit eingreifen kann. Ausstiegen heißt es dann bei der Weiche, die die beiden gemeinsam umstellen, bevor es weitergeht.

Warnsignal ertönt in Runde zwei deutlich seltener

In der Fahrerkabine der 109: Marvins Sefczik auf dem Fahrersitz, neben ihm steht Fahrmeister Martin Floß.
In der Fahrerkabine der 109: Marvins Sefczik auf dem Fahrersitz, neben ihm steht Fahrmeister Martin Floß. © Julia Tillmann

„Merkst Du, wie viel Power die Straßenbahn hat“, fragt Martin Floß, doch Marvin ist in dem Augenblick voll konzentriert darauf, während der Fahrt den Knopf auf dem Hebel gedrückt zu halten. „Ganz schön anstrengend“, findet Marvin, der den Druck in seiner Hand spürt. Dieser Knopf gehöre zum Sicherheitssystem, falls ein Fahrer ohnmächtig werde oder einschlafe, erklärt der Fahrmeister. Lässt der Fahrer diesen Knopf los, ertönt ein Warnsignal. Reagiert der Tramfahrer weiterhin nicht, erfolgt eine Notbremsung. Bei Marvin passiert das nicht, und bei Runde zwei ist das Warnsignal auch deutlich seltener zu hören.

„Guten Tag hinten“, begrüßt Marvin schließlich seine Fahrgäste. Zu denen gehören auch Mitarbeiter des Franz-Sales-Hauses, in dem der Jugendliche in einer Wohngruppe lebt, wie Alina Karg. Sie hat den Wunsch des 15-Jährigen auf Facebook öffentlich gemacht. Immerhin ist Marvin seit einigen Jahren regelmäßiger Fahrgast und riesiger Fan von Straßenbahnen, die er tagtäglich an der Steeler Straße sieht und zuvor sogar hört.

Technische Aufsichtsbehörde wurde vorab informiert

„Ich habe selbst nicht recht daran geglaubt, dass es klappen könnte“,

Auf dem Betriebsgelände der Ruhrbahn erfüllte sich Marvins großer Wunsch, die Straßenbahn einmal selbst fahren zu dürfen.
Auf dem Betriebsgelände der Ruhrbahn erfüllte sich Marvins großer Wunsch, die Straßenbahn einmal selbst fahren zu dürfen. © Julia Tillmann

gesteht Alina Karg im Nachhinein. Doch ihr lag dieser Wunsch am Herzen, da der 15-Jährige ein so bescheidener Junge sei, der stets anderen helfe und nie um etwas für sich bitte. Sie vermittelte schließlich den Kontakt zwischen Marvin und der Redaktion, und als der Bericht erscheint, gab es zahlreiche Reaktionen. Darunter die von Straßenbahnfahrer Ralf Höfs, der sich sogleich anbietet, in seiner Freizeit mit Marvin zu fahren.

Gemeinsam packen Marvin und Martin Floß an, um die Weiche umzustellen.
Gemeinsam packen Marvin und Martin Floß an, um die Weiche umzustellen. © Julia Tillmann

Ganz so einfach ist es dann jedoch nicht. Da aber Ruhrbahn-Geschäftsführer Michael Feller ebenfalls Marvins Geschichte liest, nimmt alles seinen Gang. „Wir haben die technische Aufsichtsbehörde informieren müssen“, erklärt Betriebsleiter Martin Dreps eine wichtige Voraussetzung. Er ist an diesem Tag Fahrgast und betont sofort, dass diese Fahrt eine absolute Ausnahme sei. Höchstens Polizisten oder Staatsanwälte säßen mal am Hebel, um ein Gefühl für das Bremsverhalten zu bekommen.

Vollbremsung mit dem 30 Meter langen Gefährt

Auch Marvin übt Vollbremsungen mit dem tonnenschweren, 30 Meter

Auf dem Hebel vorn befindet sich ein Knopf, den Marvin während der Fahrt gedrückt halten muss, da sonst ein Warnsignal ertönt.
Auf dem Hebel vorn befindet sich ein Knopf, den Marvin während der Fahrt gedrückt halten muss, da sonst ein Warnsignal ertönt. © Julia Tillmann

langen und 2,5 Millionen teuren Gefährt. Er blickt in den Spiegel, bis die gesamte Straßenbahn gerade ist, dann geht es los: „Gib’ jetzt erst ein bisschen Stoff“, fordert Martin Floß ihn auf. Bei 30 km/h zieht der junge Fahrer den Hebel nach hinten, die Bahn bremst, steht. „Als wenn man einen Anker wirft“, beschreibt der Fahrmeister schmunzelnd, während sein Lehrling ihn stolz und strahlend anblickt.

„Du hast das wirklich gut gemacht“, lautet das ernst gemeinte Lob des Fahrmeisters, als die beiden aussteigen. Marvin wird diese Fahrt ohnehin so schnell nicht vergessen. Und wenn er bald wieder als Fahrgast mit der Straßenbahn zu seiner Oma unterwegs sein wird, weiß er nun: „Diese selbst zu fahren, ist noch besser.“

Marvin ist regelmäßig Fahrgast

  • Als Marvin Sefczik in die Wohngruppe des Franz-Sales-Hauses nach Huttrop zog, stellten die Mitarbeiter schnell fest, dass er sich sicher im Verkehr bewegen kann. Daher besucht der 15-Jährige regelmäßig seine Großmutter in Bochum.
  • In Essen ist die 109 seine Lieblingslinie, mit der er häufig bis zur Endhaltestelle nach Frohnhausen fährt. Die Fahrpläne hat der Jugendliche längst im Kopf, verfahren hat er sich noch nie.