Essen. . Joshua Schütte (23) hat einen Hirntumor. Am Westdeutschen Protonentherapiezentrum bekommt er eine der modernsten Strahlentherapien der Welt.

Als Joshua Schütt im Juni 2018 seine Diagnose bekam, brach für ihn zunächst eine Welt zusammen. Bei dem 23-Jährigen aus Kiel wurde ein Hirntumor gefunden. Nach einer fehlgeschlagenen OP und einer langen Arzt-Odyssee bekommt er am Westdeutschen Protonentherapiezentrum in Essen nun endlich eine spezielle Strahlenbehandlung, die Chancen auf Heilung verspricht.

„Am Anfang war ich erst einmal eine ganze Zeit lang sprachlos“, erinnert sich Joshua, als die Ärzte ihm die schlechte Nachricht überbrachten. Eigentlich dachte er, er hätte irgendwas an den Augen. Er hatte Gesichtsfeldausfälle, konnte teilweise nicht richtig gucken, Dinge nicht mehr wahrnehmen. Deshalb ging er zunächst zum Augenarzt. Diverse Tests blieben ergebnislos. Doch dann zeichnete eine MRT-Untersuchung ein eindeutiges und gleichwohl schockierendes Bild.

Tumor so groß wie ein Golfball

In der Mitte von Joshuas Schädels befand sich ein Tumor von dreieinhalb Zentimeter Durchmesser – so groß wie ein Golfball. Dann kam alles Schlag auf Schlag. „Mir wurde sofort zu einer Operation geraten“, erzählt Joshua. Doch der Tumor konnte nicht entfernt werden, weil er so sehr um den Sehnerv und den Hypothalamus gewuchert war – viel zu empfindliche Stellen, um dort das Skalpell anzusetzen. „Ich dachte nur: Oh, Gott! Dabei lief doch gerade alles so gut.“ Vier Tage vor der Diagnose hatte Joshua erst seine Meisterprüfung zum KfZ-Mechatroniker bestanden. Dann das.

Doch seine OP war nicht umsonst. Die Analyse einer Gewebeprobe ergab, dass es sich um einen Tumor handelt, der sehr häufig im Kindesalter auftritt (ein sogenanntes „pilozytisches Astrozytom“). „Der Tumor wächst vermutlich schon seit meinem zehnten Lebensjahr und ist dafür verantwortlich, dass ich teilweise nichts sehe.“ Er gilt aber als gutartig und wächst nur langsam. Eine gute Nachricht in der schlechten.

Tochterunternehmen der Uniklinik

Für die Patienten werden spezielle Messing- und Kunststoffplatten (Kollimatoren und Kompensatoren) angefertigt. Sie begrenzen das Strahlungsfeld um den Tumor.
Für die Patienten werden spezielle Messing- und Kunststoffplatten (Kollimatoren und Kompensatoren) angefertigt. Sie begrenzen das Strahlungsfeld um den Tumor. © Vladimir Wegener

Doch für Joshua begann zunächst eine echte Arzt-Odyssee. „Mein Fall wurde quasi deutschlandweit diskutiert. Bei Spezialisten in Augsburg, in Regensburg, an der Uniklinik in Hamburg.“ Ihm schwelten schon Horrorszenarien von Chemo- und Strahlentherapie im Kopf herum, von ausfallenden Haaren und schmerzhaften Prozeduren. Dann rieten ihm die Fachärzte in Hamburg zu einer Protonenstrahltherapie und stellten den Kontakt zum Westdeutschen Protonentherapiezentrum Essen (WPE) her.

Dort bekommt Joshua jetzt eine der modernsten Strahlentherapien der Welt. Das WPE, ein Tochterunternehmen der Uniklinik, gilt als eines der weltweit größten Zentren seiner Art und hat 2013 seinen klinischen Betrieb aufgenommen. Es ist insbesondere auf die Behandlung von Tumorerkrankungen bei Kindern spezialisiert. Dabei kommen anders als bei herkömmlichen Strahlentherapien Protonen zum Einsatz, also jene positiv geladenen Teilchen, die Bestandteil eines jeden Atoms sind. Als Strahl gebündelt, lassen sich Tumore so besonders effektiv und mit weitaus geringeren Nebenwirkungen behandeln als bei konventionellen Therapien.

30 Mal zur Bestrahlung

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Seit Mitte Dezember unterzieht sich Joshua dieser High-Tech-Strahlentherapie. 30 Mal wird er insgesamt bestrahlt, wohnt deshalb in einem Apartment direkt gegenüber des Zentrums. Wochentags muss er jeweils am Morgen für eine knappe halbe Stunde zur Behandlung in einen futuristischen Raum, der wie eine Krankenstation aus einem Science-Fiction-Film aussieht. Dort legt er sich auf einen speziellen Behandlungstisch auf eine Vakuummatratze und bekommt eine grüne Gittermaske aufgesetzt. „Die Maske ist zur Ausrichtung und Fixierung des Kopfes, weil der Strahl ziemlich genau ausgerichtet wird“, erklärt Joshua. Dann wird er aus drei Richtungen bestrahlt.

„Bei der ersten Behandlung hatte ich schon ein komisches Gefühl. Was passiert jetzt eigentlich genau? Wie merkt man, dass die Bestrahlung losgeht?“, erzählt Joshua. Doch bei der Behandlung spürt er nichts. Und Nebenwirkungen wurden bislang keine festgestellt. „Ich bin alle paar Tage mal ziemlich schlapp. Man hat so einen Durchhänger. Wenn ich auf dem Sofa sitze, merke ich, wie ich einnicke.“

1500 Patienten wurden bisher behandelt

Seit Gründung des WPE wurden etwa 1500 Menschen in Essen behandelt. Die Hälfte der Patienten sind Kinder. 30 Prozent kommen aus dem Ausland, nehmen weite Reisen auf sich, weil es weltweit nur wenige Behandlungszentren gibt.

Im Kontroll- und Überwachungsraum behält eine medizinische Assistentin den Überblick über Patient und  Protonenstrahler.
Im Kontroll- und Überwachungsraum behält eine medizinische Assistentin den Überblick über Patient und Protonenstrahler. © Vladimir Wegener

Die High-Tech-Medizin hat auch ihren Preis. Die Behandlungskosten sind drei- bis viermal teurer als bei konventionellen Therapien. Das WPE hat in Deutschland allerdings bereits vor Gründung der Einrichtung zahlreiche Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen geschlossen und Indikationslisten abgestimmt. Kommt eine Protonentherapie in Frage, werden die Kosten in der Regel übernommen. Um das festzustellen, werden ausführliche Vorgespräche geführt und alle Befunde des Patienten von zahlreichen Ärzten überprüft. Ein eigenes „Case Management“ kümmert sich um das Organisatorische. Gibt es grünes Licht von den Krankenkassen und den Experten am WPE, findet die Behandlung wenige Wochen später statt.

„Die Ärzte konnten mir die Angst nehmen“, erzählt Joshua. Auch Familie und Freunde waren beruhigt, als es mit der Therapie losging. „Ich bin guter Dinge, dass der Tumor weggeht, also zumindest kleiner wird, so dass ich wieder richtig gucken kann“, meint er.

Drei Monate Erholung

Nach der Bestrahlung hat er eine dreimonatige Erholungsphase, dann wird mittels MRT überprüft, wie die Therapie angeschlagen hat. Es ist möglich, dass er komplett geheilt werden kann. „Ich soll nach der Behandlung erst einmal einen Monat lang Urlaub machen“, sagt Joshua. Das hätten die Ärzte ihm geraten. Dann soll er langsam wieder mit der Arbeit anfangen.

Eine neue Stelle hat er noch nicht in Sicht, doch der junge KfZ-Mechatroniker hat Benzin im Blut und freut sich auf eine Sache ganz besonders: „Ich will endlich wieder schmutzige Finger haben. Das fehlt mir.“

Info: Im Keller entsteht ein Proton

Am WPE trifft Spitzenmedizin auf Spitzentechnik. Das Herzstück der Einrichtung ist ein sogenanntes Zyklotron – ein Protonenbeschleuniger. „Dort wird das Proton aus Wasserstoff erzeugt“, erklärt Oberarzt Dirk Geismer, „dieses wird in einem Magnetfeld und in einer Hochfrequenz spiralförmig beschleunigt bis zu einer Energie von 230 Megaelektronenvolt. Die hat eine Eindringtiefe in den Körper von 32 Zentimentern, so dass wir eigentlich jeden Punkt im Körper mit unserem Protonenstrahl erreichen können.“ Die erzeugten Protonen werden über einen etwa 30 Meter langen Strahlenweg zu den vier Behandlungsräumen, den sogenannten „Gantrys“, geführt. Ein ganzes Kellergeschoss ist nur für die Technik reserviert. Was der Patient nicht sieht: Das mehrgeschossige Stahlgerüst, mit dem der Strahlerkopf um 360 Grad gedreht werden kann.

Die Protonentherapie gilt deshalb als bessere Alternative zur herkömmlichen Strahlenbehandlung mit Photonen, weil „wir Tumoren zielgenau bei einer sehr hohen Dosis bestrahlen können, ohne dabei gesundes Gewebe zu schädigen“, so Dirk Geismer. Die noch junge Methode soll am WPE mittels Vergleichsstudien überprüft werden. Bislang ist die bessere Wirksamkeit noch nicht abschließend bewiesen.

Das WPE in Zahlen:

  • 107 Mitarbeiter arbeiten am Westdeutschen Protonentherapiezentrum unter der Leitung von Prof. Beate Timmermann. Darunter 15 Ärzte, 26 Radiologieassistenten und 10 Pflegekräfte in der Ambulanz.
  • Allein um die Technik kümmern sich u.a. 17 Medizinphysiker und sieben Mitarbeiter im Bereich Feinmechanik/IT. Die am WPE durchgeführten Studien werden von 10 Mitarbeitern betreut.

Drei Fragen an Strahlentherapeut Dr. Dirk Geismer

Oberarzt Dr. med. Dirk Geismer ist Strahlentherapeut am Protonentherapiezentrum
Oberarzt Dr. med. Dirk Geismer ist Strahlentherapeut am Protonentherapiezentrum © Vladimir Wegener

Am Westdeutschen Protonentherapiezentrum Essen (WPE) werden Tumore behandelt, die im Kindesalter auftreten. Aber auch Erwachsene profitieren davon. Strahlentherapeut Dr. Dirk Geismer klärt über die spezielle Behandlung auf.

1. Wie lange gibt es diese Form der Therapie bereits?

Die Idee zur Protonenstrahltherapie ist erstmals 1946 beschrieben worden. Anfang der 50er-Jahre wurden an Forschungsinstituten in den USA die ersten Anlagen in Betrieb genommen. Aber erst in den 1990ern ist in Kalifornien die erste Einrichtung gebaut worden, die an ein Krankenhaus angeschlossen war. Seitdem wurden in den USA, Europa und Asien weitere Anlagen errichtet. In Deutschland gibt es fünf Zentren, beispielsweise noch in München oder in Heidelberg. Das WPE ist die größte Einrichtung seiner Art in Deutschland und von Anfang an auf die Behandlung von Kindern spezialisiert worden.

2. Welche Krankheiten können behandelt werden?

Heute behandeln wir im Grunde alle Arten von Sarkomen im Bereich des gesamten Skelettes, insbesondere der Wirbelsäule, im Schädelbasis-, Kopf-, Hals- und Beckenbereich. Ein Großteil macht die Behandlung von Hirntumoren aus. Wir behandeln statische Ziele, also alle Ziele, die nicht durch Atem- oder Herzbeweglichkeit gestört werden. In Zukunft sollen aber auch verschiebbare Tumore behandelbar sein. Daran arbeiten wir derzeit. Grundsätzlich ist es unser Ziel die Patienten kurativ zu behandeln, das heißt gesund zu bekommen. Das ist eine Grundvoraussetzung. Wir werden meist in der primären Therapie eingesetzt, also wenn sich noch keine Metastasen gebildet haben.

3. Welche Herausforderung besteht bei der Behandlung von Kindern?

Wir haben die Besonderheit, dass wir eigene Anästhesie-Teams vor Ort haben, weil von unseren Kindern die Hälfte etwa so jung ist, dass sie einfach nicht von selbst ruhig im Behandlungsraum liegen können. Diese müssen dann sediert werden. Das ist bei Kindern unter sechs Jahren so. Aktuell behandeln wir am Tag etwa 20 Kinder. Sie haben sehr gute Chancen, geheilt zu werden.