Essen. . Eberhard Sauerbrei aus Altenessen sucht die Namen aller Essener Gefallenen aus dem 1. Weltkrieg. Aktuell hat er 26.864 Kriegsopfer erfasst.

Eberhard Sauerbrei aus Altenessen hat sich viel vorgenommen. Sein ehrgeiziges Projekt trägt den betont sachlich gefassten Titel „Kriegsopfer I. Weltkrieg in Stadt und Landkreis Essen“. Doch in Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein kolossales Erinnerungswerk, das die Monstrosität des Ersten Weltkriegs (1914-18) dokumentiert. 100 Jahre danach ist der pensionierte Vertriebsingenieur dabei, die erste vollständige Weltkriegsverlustliste für die Stadt Essen aufzustellen. „Aktuell umfasst meine Verlustliste die Namen von 26.864 Kriegsopfern“, sagt der Hobbyhistoriker.

Es sind die Namen von Ehemännern und Vätern, Brüdern und Neffen. Die meisten sind an der Front gefallen oder Tage, ja Monate später im Lazarett ihren Verwundungen erlegen. Wieder andere werden bis heute vermisst. Die nationale Brille hat Eberhard Sauerbrei für seine Recherchen zwangsläufig absetzen müssen. „Auch die in Essen verstorbenen Kriegsgefangenen vieler Nationalitäten habe ich in meine Verlustliste aufgenommen.“

Schon seit gut fünf Jahren beschäftigt er sich mit den Kriegsopfern. „Mit den Denkmälern in Essen habe ich angefangen.“ Sie finden sich überall im Stadtgebiet. Das Denkmal im Hügelpark etwa listet 67 Gefallene auf, 175 sind es in Heidhausen am Rathaus, 363 in Kupferdreh und 462 am Ehrenmal Frankenstraße in Rellinghausen.

Schwierige Auseinandersetzung mit zwei Weltkriegen

Die Kupferdreher Bürgerschaft erinnerte mit diesem martialischen Denkmal
Die Kupferdreher Bürgerschaft erinnerte mit diesem martialischen Denkmal © Knut Vahlensieck

Die Deutschen tun sich nach den verlorenen Weltkriegen schwer mit der Erinnerung an begangenes und erlittenes Leid. Hinzu kommt: Die schmerzhafte Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Zweiten hat die Erinnerung an den Ersten regelrecht zugeschüttet. Bezeichnend: Etliche Essener Ehrenmale des Ersten Weltkriegs sind entweder längst verschwunden oder die metallenen Namenstafeln wurden leise abgeschraubt und in Kellern gelagert.

Das abgerissene Kriegerdenkmal vom Katernberger Markt wurde nicht unmittelbar nach dem Krieg errichtet, sondern 1934, als die Nazis das kriegsmüde Volk schon wieder zum noch mörderischeren Rachefeldzug anstachelten. Die im Sandstein-Quader versenkte Urkundenrolle wird heute im Ruhr Museum aufbewahrt. Sie datiert vom 14. Oktober 1934, als – so wörtlich – „der Führer Adolf Hitler Reichskanzler, Hermann Göring preußischer Ministerpräsident, Staatsrat Josef Terboven Gauleiter des Gaues Ruhr-Niederrhein und Walter Schmitten Ortsgruppenleiter Katernberg der NSDAP waren“. Die Namen von 702 gefallenen Katernbergern sind darin aufgelistet, darunter Grenadiere und Musketiere, Füsiliere und Torpedoheizer, Landwehrmänner und Sanitäts-Sergeanten.

„Und wer den Tod in heiligem Kampfe fand . . .“

Frillendorf hingegen steht zu seinem Ehrenmal, seit gut zehn Jahren kümmert sich die Kolpingfamilie darum. Die Lokalzeitung – ganz im überschwänglich-patriotischen Geist jener Zeit – titelte am 15. Juli 1928: „Einweihung des Ehrenmals für die gefallenen Helden“ und zitierte die schwülstige Inschrift der Rückseite: „Und wer den Tod in heiligem Kampfe fand, ruht auch in fremder Erde im Vaterland“. 94 in die drei massiven Steinplatten eingravierte Namen hat Eberhard Sauerbrei in seine Verlustliste übertragen.

Denkmäler sind aber nicht seine einzige Quelle. Stunde um Stunde, Tag um Tag hat Sauerbrei in Archiven verbracht, um in mühevoller Detailarbeit Chroniken von Schulen und Vereinen, Sterbe- und Jahrbücher auszuwerten. So erfuhr er, dass die evangelische Altstadtgemeinde um mehr als 1700 Opfer trauerte und der Reichsbund Jüdischer Frontkämpfer seine Essener Gefallenen ebenfalls auflistete.

Das erste und das jüngste Opfer

Das Rotkreuz-Museum in Essen hat vor vier Jahren Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg ausgestellt. Dieses zeigt Sanitäter, die einen Verletzten versorgen.
Das Rotkreuz-Museum in Essen hat vor vier Jahren Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg ausgestellt. Dieses zeigt Sanitäter, die einen Verletzten versorgen. © Rotkreuz-Museum

Auch in den zahlreichen Online-Datenbanken ist Eberhard Sauerbrei fündig geworden. „Hinter jedem Namen steht ein Schicksal“, sagt er. Ein gewisser Otto Kruppa (25), ein aus Ostpreußen stammender Bergmann, zählt wohl zu den ersten Essener Opfern. Der Soldat des Infanterieregiments (IR) 172 fiel schon am 6. August 1914 in Frankreich, kurz nach Kriegsbeginn. Das IR 172 findet sich mit 450 Nennungen auffallend oft in Sauerbreis Verlustliste. „In keinem anderen Regiment starben mehr Essener.“

Der Kaufmannslehrling Wilhelm Kersten aus Rüttenscheid zählt mit gerade mal 17 Jahren zu den jüngsten Essener Opfern. Er fiel 1916 in der Schlacht an der Somme. Andere Essener ließen ihr Leben vor den Falklandinseln im Südatlantik oder in U-Booten im Ärmelkanal.

Sauerbreis Verlustliste wächst. Bei Recherchen im Haus der Essener Geschichte ist er am Dienstag auf weitere Namen gestoßen. Er ist der Chronist zigtausendfachen Leids. „Mein Ziel ist, die Verlustliste zu veröffentlichen und den Essenern für persönliche Nachforschungen zur Verfügung zu stellen“, sagt Sauerbrei.

>>> ZWEI MILLIONEN TOTE DEUTSCHE SOLDATEN

Rund zwei Millionen Deutsche sind im Ersten Weltkrieg gefallen oder werden vermisst. Städte wie Stuttgart und Karlsruhe haben nach dem Krieg vollständige Verlustlisten angelegt.

Eberhard Sauerbrei ist über Recherchen zu seinem Großvater August Böhle aus Steele auf die Erforschung der Essener Kriegsopfer gestoßen. Böhle fuhr im Ersten Weltkrieg Munitionszüge nach Verdun.