Essen. . Leni Zytnicka wird als Protestantin in Essen geboren, heiratet einen Juden und wird 1938 nach Polen deportiert. Ein Buch erzählt ihr Schicksal.

Sie war ahnungslos und noch im Morgenrock, als die Katastrophe über sie hereinbrach: „Um halb sieben bin ich aufgestanden, denn meine Kinder müssen ja um halb acht angezogen sein und gefrühstückt haben“, so hat Helene „Leni“ Zytnicka Jahrzehnte später den 28. Oktober 1938 geschildert. Es habe geklopft, zwei Beamte in Zivil seien eingetreten: „Wir müssen Sie leider mitnehmen.“ Das Wetter sei schön gewesen, also ging sie in Pumps und Sommermantel. Mit den Töchtern (6 und 12 Jahre) und ihrem Ehemann David Zytnicki. Er sollte nach Kriegsende nicht mit der Familie nach Essen zurückkehren.

Familienidylle wenige Monate vor der Deportation aus Essen: Leni Zytnicka und David Zytnicki im August 1938 mit den Töchtern Henny und Judith Sonja.
Familienidylle wenige Monate vor der Deportation aus Essen: Leni Zytnicka und David Zytnicki im August 1938 mit den Töchtern Henny und Judith Sonja. © LZ

Von den dazwischen liegenden Jahren, von ihrem ungewöhnlichem Schicksal hat Leni Zytnicka den Autoren Heidi Behrens und Norbert Reichling im Alter von 96 Jahren zur Jahrtausendewende zum ersten Mal erzählt. Sie hatte sich über die Alte Synagoge selbst um einen Kontakt zu möglichen Biographen bemüht, denn bis da hatte niemand sie als Zeitzeugin befragen mögen. Das mag auch darin liegen, dass Leni Zytnicka sich üblichen Opfer-Zuordnungen entzog: Sie kam 1904 in Altenessen zur Welt, wurde evangelisch getauft, besuchte die Handelsschule, wurde Buchhalterin. 20 Jahre sei sie Christin gewesen, bevor sie sich zur polnischen Jüdin wandelte – mit der Heirat 1926.

Die Essener sahen dem Abtransport der Juden zu

Ihr Ehemann David Zytnicki stammte aus Warschau und hatte die polnische Staatsbürgerschaft in Essen nie abgelegt. Seinen jüdischen Glauben nahm Leni Zytnicka aus freien Stücken an, ihre Staatsangehörigkeit verlor sie durch die Eheschließung. Während ihr Mann, der als Handelsreisender arbeitete, die wachsende Entrechtung der Juden im NS-Regime spürte, erzählte Leni Zytnicka ihren Biographen von einem weitgehend normalen Leben mit Besuchen in der Lichtburg oder im Handelshof.

Vor der Ankündigung „Ein idealer Gatte“ posiert Helenes Ehemann David Zytnicki in den 1930er Jahren. Im Hintergrund weht schon die Hakenkreuz-Flagge
Vor der Ankündigung „Ein idealer Gatte“ posiert Helenes Ehemann David Zytnicki in den 1930er Jahren. Im Hintergrund weht schon die Hakenkreuz-Flagge © LZ

Sie und die kleinen Kinder traf die Zwangsausweisung am 28. Oktober 1938 völlig unvorbereitet. So wie wohl die meisten der 461 Juden, die an jenem Tag aus ihren Wohnungen in Essen geholt wurden. Das war zwei Wochen vor den Novemberpogromen, Jahre vor der massenweisen Deportation der deutschen Juden. Zynisch betrachtet auch ein Testlauf für die Machthaber. Zeitzeugen berichten, dass viele Essener am Bahnhof Spalier gestanden hätten, als die sogenannten Ostjuden in die Züge ins polnische Zbąszyń (dt. Bentschen) gesetzt wurden. Einige der Neugierigen hätten gespuckt, andere geweint, die meisten seien gleichgültig gewesen. Hämisch schrieb die Rheinisch-Westfälische Zeitung am anderen Tag: „Mit Schmunzeln betrachtete die Bevölkerung Essens den Ausmarsch der Juden.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich vor lauter Angst gelebt habe“

Bis dahin hatte sich Leni Zytnicka auch zur Bevölkerung gezählt: „Ich war eigentlich enttäuscht von Deutschland, ich war so eine stolze Deutsche.“ Sie war auch eine Überlebenskünstlerin, die über die erste Zeit im polnischen Zbąszyń sagt: „Aber dann war ja Kristallnacht, da sagte mein Mann: ,Gut, dass wir nicht mehr in Deutschland sind.’“

Mit Kriegsbeginn im September 1939 zog die Familie Zytnicki zu Verwandten nach Warschau, wo sich ihre Lage – wie die ihrer Leidensgenossen – stetig verschlechtern sollte. Mit gefälschten Pässen, dank ihres Mutes und ihres fließenden Deutsch vermochte Leni Zytnicka die deutschen Besatzer oftmals zu täuschen. Ihr gelang es, mit den Töchtern außerhalb des Ghettos zu leben und durch das Überstreifen der Armbinde mit dem Judenstern zu ihrem Mann ins Ghetto zu gelangen, wo jeden Tag der Abtransport ins KZ drohte. „Ich weiß gar nicht, wie ich vor lauter Angst gelebt habe“, sagt sie zu ihren Biographen.

Das Leid der anderen ließ die Überlebende nie los

Anderes wird sie ihnen nicht erzählen, teils weil es zu belastend ist, teils weil die hochbetagte Dame sich an Details nicht erinnert. Etwa an das zähe Ringen um Rente, Rückeinbürgerung, Entschädigung. Vom Bügeleisen bis zur Bücherwand soll sie ihren Hausstand auflisten, nur um beschieden zu bekommen, sie habe nicht dargelegt, „in wessen Hände die Wohnungseinrichtung gelangt ist“. Die später erkämpften Rentenansprüche lehnt man 1952 noch ab, schreibt, sie sei „wehleidig und klagebetont.“

Helene „Leni“ Zytnicka an ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2004.
Helene „Leni“ Zytnicka an ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2004. © Werner Menger

Es ist das große Verdienst der Autoren, dass sie solche Zeugnisse in den Archiven zu Tage gefördert haben. Sie schließen in ihrem – packenden! – Buch nicht nur Lücken im Bericht der Zeitzeugin, die 2007 mit 103 Jahren verstarb. Sie zeigen auf, dass „der seltene Fall“ der Leni Zytnicka auch beispielhaft steht für das Leid vieler anderer. Ein Leid, das Leni Zytnicka zeitlebens bis in ihre Träume verfolgte: „Ich schlaf’ nur auf Schlaftabletten.“

>>> GENERALPROBE FÜR DIE VERNICHTUNG

Die Leidensgeschichte der „Ostjuden“ begann in den 1880er Jahren: Damals kamen Juden aus Osteuropa auf der Flucht vor russischen Pogromen nach Deutschland, oft in Ballungszentren wie das Revier.

1933 bürgerte die NS-Regierung zunächst Juden aus Polen rückwirkend aus. Am 27./28. Oktober 1938 verhaftete man 17.000 Juden polnischer Herkunft mit ihren Familien und brachte sie in Sonderzügen zur polnischen Grenze. Die Aktion war kurzfristig anberaumt, die örtliche Polizei teils erst am Vorabend instruiert. Betroffene hatten eine halbe Stunde zum Packen, viele Männer nahm man gleich auf der Arbeit fest.

In Paris verübte Herschel Grynszpan, dessen Eltern ebenfalls deportiert worden waren, aus Verzweiflung ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Als der am 9. November starb, lieferte das Adolf Hitler und Propagandaminister Josef Goebbels den willkommenen Anlass, um die Novemberpogrome zu entfesseln: Am selben Abend brannten in ganz Deutschland Synagogen, Geschäfte wurden zerstört, Menschen getötet.

Die Autoren Heidi Behrens und Norbert Reichling weisen darauf hin, dass die Deportation der „Ostjuden“ („Polenaktion“) für die beteiligten deutschen Stellen gleichsam eine „Generalprobe“ für die spätere Verschleppung und Ermordung aller Juden gewesen sei. Und zwar in Hinblick auf die Organisation wie auch auf die Akzeptanz in der „Volksgemeinschaft“.

>>> BUCH ZEICHNET LEBENSGESCHICHTE NACH

Heidi Behrens/Norbert Reichling: „Ich war ein seltener Fall“, Klartext Verlag. 240 Seiten, 19,95 Euro. ISBN: 978-3-8375-1986-0

Das Buch erzählt das Leben der Leni Zytnicka, die aus einer protestantischen Essener Familie stammte und einen polnischen Juden heiratete. Wie fast alle „Ostjuden“ wird die Familie 1938 an die deutsch-polnische Grenze deportiert. Später gerät sie ins Warschauer Ghetto. Die Autoren sprachen im Jahr 2000 erstmals mit der alten Dame und recherchierten aufwendig, um deren Bericht in das Zeitgeschehen einzuordnen.