Essen. . Drama einer unerfüllten Liebe: Cranko-Experte Reid Anderson gibt der Aalto-Ballettcompagnie den letzten Schliff für das Meisterwerk „Onegin“

„Liebe ist immer aktuell. Hass ist immer aktuell. Man muss es nur gut liefern“, sagt Reid Anderson (69). Damit das bei John Crankos 50 Jahre jungem, weltweit aufgeführtem Meisterwerk „Onegin“ gelingt, gibt der ehemalige Solotänzer und kürzlich in den Ruhestand verabschiedete Stuttgarter Ballettdirektor dem Aalto-Ballett den letzten Schliff. Dagmar Schwalm sprach mit dem Cranko-Experten über ein Handlungsballett, das ihn fast ein Leben lang begleitete.

Herr Anderson, als Sie 1969 als Tänzer zum Stuttgarter Ballett kamen, war „Onegin“ noch ganz frisch auf dem Spielplan. Wie war Ihre erste Begegnung?

John hatte 1967 eine zweite Fassung gemacht und die ist auch hier zu sehen. Ich kam mit 19 nach Stuttgart und sah es in einer Traumbesetzung mit Marcia Haydée. Ich wusste gar nicht, dass man so etwas mit einem Ballett sagen kann. Mein Ziel war sofort Onegin. Aber ich tanzte erst den Fürsten Gremin, Jahre später Onegin. Das Ballett wurde ein Leitmotiv in meinem Leben. 25 Mal habe ich es in der Welt gecoacht. Es begann für mich 1984 mit dem National Ballet in Toronto. Ich war damals in Stuttgart Erster Solist und Ballettmeister.

„Onegin“ ist die hohe Schule der Ballettkunst. Was wird den Tänzern abverlangt?

Johns Ballette haben einen klassischen Schrittkanon. Die Hebefiguren sind kompliziert. Aber vor allem hat es etwas mit Schauspiel zu tun. Die Bedeutung muss mittanzen, damit das Publikum weiß, was los ist. Es muss aus dem Inneren des Tänzers kommen, damit die Schritte wie eine Sprache sind.

Darf jede Compagnie Crankos Choreografien tanzen oder gibt es bestimmte Voraussetzungen?

Die Pariser Oper hat 150 Tänzer, das Bolschoi 200. Wir haben „Onegin“ ja schon mit Martin Puttke in Essen gemacht und wussten, dass die Compagnie mit 30 Tänzern plus ziemlich klein ist. Aber das ist nicht entscheidend. Eine Compagnie muss vor allem Persönlichkeiten haben.

Und die haben Sie in Essen gefunden?

Ich habe mir im letzten Jahr die Tänzer bei Proben und in „Schwanensee“ angesehen und in Absprache mit dem Ballettintendanten die Besetzung gemacht. Daran hat sich bisher nichts verändert. Wichtig ist, dass die Hauptfiguren zusammenpassen.

Essen verfügt nicht über die finanziellen Mittel wie Stuttgart. Wie machen sich Unterschiede bemerkbar?

In Essen gibt es nicht so viele Ballettsäle, nicht so viele Tänzer (Stuttgart hat eine mittelgroße Compagnie mit 65 Tänzern), weniger Probenzeit auf der Bühne. Und wir probieren hier mit einem Band, nicht mit einem Pianisten. Auf dem Band sind die Tempi immer gleich. ­Mit dem Orchester ist das anders. Das macht es schwieriger für die Tänzer, aber nicht unmöglich.

Sie haben in 22 Jahren als Ballettchef unzählige Tänzer gesehen. Wie schätzen Sie die Essener ein?

Sie sind sehr willig, sehr positiv, sehr konzentriert. Man kann schnell weiterkommen. Man arbeitet sehr präzise. Es ist von Vorteil, dass man viele verschiedene Richtungen tanzt und ein breites Spektrum hat. Mein Job ist das Feintuning. Die Schritte haben ihnen die Choreologen beigebracht, Agneta und Victor Valcu. Damit haben wir neben Intendant Ben Van Cauwenbergh und mir noch einen ehemaligen Tänzer, der Onegin getanzt hat.

Eine verträumte Tatjana, die sich zur reifen Frau wandelt, ein hochmütiger Onegin, der zu spät vor Verlangen glüht, eine lebenslustige Olga, die mit dem schwärmerischen Dichter Lenski ihre Liebe auskostet, ein gestandener Fürst Gremin - wie findet man für das Drama einer unerfüllten Liebe diese Typen?

Es braucht keine bestimmten Typen für diese fünf Hauptfiguren. Die Tänzer müssen offen sein und müssen ihre eigene Persönlichkeit in der Rolle finden. Für manche ist es leicht hineinzuschlüpfen, manche müssen hart an der Interpretation arbeiten.

„Ich habe alles von John gelernt“

Ihre Ära als Ballettchef steht für die Förderung junger Tänzer und Choreografen und die Erhaltung von Crankos Erbe. Was hat Sie dabei angetrieben?

Weil seine Ballette so wertvoll sind, sollen wir sie sehen, wie John sie sich vorgestellt hat. Sie sind so delikat, so filigran und geben den Menschen so viel mit, sagen so klar ohne Sprache, wie wir leben.

Worauf sind Sie rückblickend besonders stolz?

Die John-Cranko-Schule bekommt ein neues Gebäude. Es hat 20 Jahre gedauert, bis ich das hingekriegt habe. Darauf bin ich stolz. Denn die Schule bedeutet Futter für die Compagnie.

Was hat John Cranko Ihnen beigebracht?

Er hat mir gezeigt, wie man sich als Fürst Gremin in „Onegin“ oder als Paris in „Romeo und Julia“ bewegt. Ich habe von ihm den Umgang mit Menschen gelernt, eine Offenheit – ich habe alles von John gelernt, habe ihm alles zu verdanken. Ich durfte machen, was ich liebe.

Ihr Ruhestand gleicht eher einem Unruhestand. Wie sieht der aus?

Ich habe nicht so viel Stress und Verantwortung, bin aber ausgebucht. Ich freue mich, hier zu sein. Anschließend coache ich in Berlin „Romeo und Julia“, in Prag „Schwanensee“, reise zu Marcia Haydée nach Chile und studiere in Salt Lake City wieder „Onegin“ ein.

„Eugen Onegin“ im Aalto

Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ von 1830, dem das Ballett zugrunde liegt, erzählt von Tatjana, die sich in den reichen Großstädter Onegin verliebt. Er weist sie ab. Jahre später trifft Onegin sie erneut, erkennt seinen Fehler, fleht um ihre Liebe. Doch sie ist inzwischen eine reife Ehefrau und weist nun ihn ab.

Das Ballett von John Cranko hat Premiere am ­Samstag, ­10. November, 19 Uhr, im Aalto-Theater.

Musik von Tschaikowski, arrangiert von Kurt-Heinz Stolze. Es spielen die Essener Philharmoniker. Leitung: Johannes Witt.

In den Hauptrollen sind Liam Blair als Onegin und Yurie Matsuura als Tatjana zu erleben.

Karten - auch für die Premiere - unter: 8122 200