Essen. . 1944 stürzt ein Mob drei britische Soldaten von einer Essener Brücke in den Tod. Die nun enthüllte Gedenktafel ist für die Angehörigen ein Trost.
Mike Mawson war fünf Jahre alt, als sein Großonkel starb. Offiziell galt der britische Flieger seit 1944 als vermisst, die Familie musste aber davon ausgehen, dass er bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Mehr als 70 Jahre sollten vergehen, bis die genauen Umstände des Todesfalls bekannt wurden. Nun reiste Mike Mawson mit seiner Frau June aus Nordengland zum Tatort: zur Brücke an der Wickenburgstraße in Frohnhausen.
Hier erinnert seit Montag eine Gedenktafel daran, dass Mawsons Großonkel und zwei andere britische Flieger keineswegs beim Abschuss ihrer Lancaster-Bomber starben, sondern von Essener Zivilisten umgebracht wurden – unter den Augen ihrer Bewacher. Die drei Männer waren beim Angriff auf Essen am 12. Dezember 1944 abgeschossen worden, konnten mit dem Fallschirm abspringen und sich retten.
Der Mob stürzte die Gefangenen von der Brücke
Am folgenden Tag sollten die drei Kriegsgefangenen, von zwei Soldaten eskortiert, zum Mülheimer Flughafen gebracht werden. Auf der Brücke an der Wickenburgstraße griffen aufgebrachte Zivilisten die britischen Soldaten an, beschimpften sie als „Mörder“. Die Eskorte griff nicht ein, ermutigte den Mob noch. So wurden die drei Briten von der Brücke in den Borbecker Mühlenbach gestürzt. Ein Unteroffizier schoss von oben auf die verletzten Männer, sorgte dafür, dass auf keinen Fall einer von ihnen überlebte. Dann stahlen die Täter ihren Opfern noch die Jacken und Stiefel.
Die grausame Tat sollte nicht ungesühnt bleiben: Nach Kriegsende verurteilte ein britisches Militärgericht drei der Täter zum Tod durch den Strang, drei weitere bekamen teils lange Gefängnisstrafen. Lediglich der Unteroffizier war untergetaucht. 45 Jahre später rollte der Essener Staatsanwalt Bernd Schmalhausen den Fall wieder auf, musste aber feststellen, dass der Unteroffizier inzwischen verstorben war.
Pfarrer Traugott Vitz stieß auf den vergessenen Mordfall
Mit der Zeit waren die Lynchmorde aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Erst der pensionierte Pfarrer Traugott Vitz regte jüngst eine Gedenktafel an. Er war bei der Arbeit zu einem Buch auf Unterlagen über das Todesurteil gegen die Mörder gestoßen. Dieser Beifang seiner ursprünglichen Recherchen ließ ihm keine Ruhe: Vitz forschte weiter, und stellte fest, dass zeitgleich auf der britischen Insel ein Polizist zu dem Fall ermittelte: Marc Hall (35) arbeitet im Hauptberuf für die Metropolitan Police London und hatte – rein privat – das Schicksal eines im Krieg in Duisburg getöteten Verwandten klären wollen.
Auch Hall stieß bei seiner Arbeit auf die Lynchmorde in Essen: „Es hat mich gepackt, dass niemand wusste, wer diese drei Männer waren.“ Gemeinsam mit Vitz durchforstete er das Archiv des Südwestfriedhofes, wo sie Unterlagen von 26 britischen Fliegern fanden, die Ende 1944 in Essen ihren Tod fanden und beerdigt wurden. Sie alle wurden später von den Briten exhumiert und identifiziert. Am 12. Dezember waren beim Großangriff auf Essen jedoch vier Lancaster-Bomber mit insgesamt 29 Crewmitgliedern abgestürzt. „Die drei, die in den Beerdigungsunterlagen fehlen, sind die Mordopfer“, folgert Vitz.
Für die Angehörigen ist die Gedenktafel ein später Trost
Auf der Gedenktafel ist trotzdem von drei unbekannten Angehörigen der britischen Luftwaffe die Rede. Ein letzter Beweis lässt sich nicht erbringen. Doch für Marc Hall war die Indizienkette schlüssig genug, dass er behutsam zu den Angehörigen der Opfer Kontakt aufnahm. Für sie war es nach dem ersten Schock eine Erleichterung, nun das Schicksal ihres Großonkels zu kennen, sagt Mike Mawson. „Wir haben ja immer geglaubt, unser Onkel sei in der Luft gestorben“, ergänzt der zweite nach Essen gereiste Großneffe, Kevin McQueeney. Es sei wohl besser, dass die ältere Familiengeneration nicht mehr vom brutalen Mord am Onkel und Vater erfahren habe. „Aber uns bedeutet diese Tafel viel.“
Auch Marc Hall dankt der Stadt Essen und den Beteiligten für die Tafel, die die Flieger würdige. „Es gibt ungelöste Fälle, die nie geklärt werden.“ In diese dunkle Geschichte aber habe er mit anderen und in harter Recherche Licht bringen können. Mit dem Autor Sean Feast hat Hall den Mordopfern auch in ihrer Heimat ein Denkmal gesetzt: ein Buch, das nun in England erscheint.
>>> ENGLISCHES BUCH ÜBER DAS VERBRECHEN
Sean Feast, Marc Hall: „Missing Presumed Murdered: One Raid, Two Trials, Three Lost Airmen.“ Das Buch ist jetzt auf Englisch erschienen. Der Titel heißt: „Vermisst, vermutlich ermordet. Ein Überfall, zwei Prozesse, drei verlorene Flieger.“ gebunden, 240 Seiten. ISBN-10: 1999812859.
Sean Feast (*1967) ist gelernter Journalist und arbeitet heute in der PR Branche. Sein Großonkel war Air Force-Pilot und starb im Zweiten Weltkrieg. Seit er 1999 im Selbstverlag ein Buch über den Onkel veröffentlichte, hat ihn das Thema nicht losgelassen. Inzwischen hat er etliche Titel publiziert. Marc Hall arbeitet bei der Metropolitan Police in London. Auch er stieß zunächst durch seine Familiengeschichte auf das historische Thema.