Essen. . Unsere Leser nahmen an einer Backstuben-Führung teil. Sie lernten, was ein gutes Brötchen ausmacht, wie viele Schichten Blätterteig hat und mehr.
Der Himmel über Holsterhausen ist nachtschwarz, als Leser Ralf Zacharia aus Kettwig zum ersten Mal in seinem Leben versucht, ein ordnungsgemäßes Croissant zu formen. Er steht an einer mehlbestäubten Arbeitsplatte aus Buchenholz in gleißendem Neonlicht und drückt und rollt ein handgroßes Dreieck aus Blätterteig. Irgendwie, naja, sieht es am Ende recht ordentlich aus, doch Bäckermeister Stefan Holtkamp muss Zacharia enttäuschen. Er lächelt und sagt: „Etwa zwei Zentimeter zu schmal. Sie haben nicht genug Druck mit den Fingern ausgeübt.“ Zacharia lacht: „Nun, wenn man das ein paar tausend Mal gemacht hat...“
Treffpunkt war um drei Uhr in der Frühe
Willkommen bei einer ungewöhnlichen Führung unser Aktion „Die WAZ öffnet Pforten“: Treffpunkt war um drei Uhr in der Frühe; immerhin vier Leser haben sich angemeldet, um dabei zu sein, wenn in Holtkamps Backstube an der Kahrstraße tausende Brötchen, Hörnchen, Brot und Kuchen gebacken werden. „Ich öffne meine Backstube gern“, sagt Holtkamp (53). „Ich will zeigen, dass wir hier traditionelles Handwerk machen.“ Holtkamp führt den Betrieb in sechster Generation, und die siebte ist schon da: Sohn Klaudius (20) ist auch angetreten heute Nacht.
Holtkamp hat fünf Filialen im Stadtgebiet, und mehr als zwei Räume braucht der Betrieb nicht als zentrale Backstube. „Wir verwenden keine Fertigmischungen oder -produkte, nur Mehl und Wasser und Hefe und Zutaten, also brauchen wir auch nicht viel Lagerraum“, sagt der Bäckermeister. In der Ecke surrt der riesige Teig-Rührer, das werden mal Brötchen – aber warum liegen denn da zerstoßene Eiswürfel auf dem Mehl? „Weil der Brötchenteig eine ganz bestimmte Temperatur haben muss“, sagt Holtkamp. „22 Grad sind gut, 24 Grad sind schon Mist.“
Ein Brötchen braucht 20 Minuten bei 250 Grad
Wir sehen weißgekleidete Menschen, alles gelernte Bäcker und Konditoren übrigens, die in atemberaubender Geschwindigkeit Brötchen formen, palettenweise rohe Teigklöße in mannshohe Backöfen schieben, „20 Minuten bei 250 Grad Umluft“, sagt Geselle Kay Malter, so viel braucht das klassische Weizenbrötchen, und in der Mitte der Backstube spuckt eine computergesteuerte Waage und Schneidemaschine aus Edelstahl, extra vor Jahren angeliefert aus Japan, rohe Teigschlangen aus: „Das werden Ciabatta.“ Die Mitarbeiter nehmen die Schlangen, in nur drei Handgriffen haben sie rohen Brote die klassische Form – man sieht, wie weich der Teig ist: „TA 180“, sagt Holtkamp.
Die anderthalb Stunden in seiner Backstube sind für alle Beteiligten ein anschaulicher Grundkurs in Sachen Bäckerhandwerk. „TA“ steht für „Teigausbeute“, 180 heißt: 100 Kilo Mehl und 80 Liter Wasser. „Brötchen haben 167.“ Merke: Je höher der TA-Wert, desto weicher oder fluffiger der Teig. Überhaupt, erzählt Holtkamp, sei Backen nichts anderes als „die Wanderung von Wasser“: „Brot muss man backen, so wie man Fleisch brät.“ Heißt: Erst ganz heiß, damit sich eine Kruste bilden kann, und dann die Temperatur etwas fallen lassen – so wird auch das Innere gar.
144 Schichten hat ein Blätterteig
So viel zu Brot und Brötchen, und was passiert jetzt mit dem Croissant-Teig? Er wird ausgewalzt auf einer bügelbrettgroßen Maschine, und wer weiß schon, dass Croissant-Teig aus 72 Schichten besteht? „Weil Hefe drin ist“, sagt Holtkamp. „Normaler Blätterteig hat 144 Schichten.“ Immer im Wechsel: Butter, Teig, Butter, Teig. Das erklärt alles in Sachen Geschmack und Kalorien.
Nach anderthalb Stunden sagt Leserin Judith Vohwinkel aus Werden: „Am meisten beeindruckt mich die Leidenschaft, mit der Herr Holtkamp hier sein Handwerk präsentiert.“ Dabei haben wir noch gar nicht erzählt, was wir am Rande so alles erfahren haben, zwischen Puddingschnecken und Siegerländer-Roggenmischbrot: Wie schwer es für einen Familienbetrieb sei, mit bürokratischen Monstern wie der Datenschutzgrundverordnung umzugehen, zum Beispiel. Wozu braucht ein Bäcker Datenschutz? „Ich darf meine Stammkunden nicht mehr mit Namen anreden“, witzelt Holtkamp. „Nein, im Ernst, das gilt vor allem für unsere Homepage. Man muss sich um alles selbst kümmern.“
1970 gab es noch über 200 Bäcker in Essen, die selbst gebacken haben
Und die Konkurrenz wird größer: Discounter bieten zunehmend frische Backware an, „mein Vater hat mal erzählt, dass es 1970 in Essen noch über 200 produzierende Bäckereien gab“, sagt Holtkamp. „Heute ist es kein Dutzend mehr.“ Doch Klagen gilt nicht – nach vorne schauen ist angesagt: Im Keller liegt schon der Teig für die Printen, fürs Weihnachtsgeschäft. „Der muss drei Monate reifen.“
Überhaupt spricht der Bäckermeister viel und oft von „Ruhe“, den der Teig braucht, und von „Stress“, den der Teig nicht braucht, egal, ob es um Hörnchen oder Roggenbrot geht. So gesehen: Dies ist keine Fabrik. Sondern hier arbeiten Menschen mit Material, das irgendwie lebt. Auch wenn unsereiner glaubt, Mehl ist der immergleiche weiße Staub. „Stimmt nicht“, sagt Holtkamp. „Es ist ein Naturprodukt. Die Dürre der letzten Wochen wird sich übrigens erheblich auf unsere Branche auswirken.“
Wir werden’s wohl merken, vermutlich an den Preisen.