essen. . Notizen von Essener Public Viewings: Warum ein Mann aus Bergerhausen eine Kiste Bier gewann. Und wie ein deutsch-mexikanisches Paar tippte.
Deutschland verliert eins zu null, aber Olli (51) aus Rellinghausen gewinnt eine Kiste Stauder-Pils. Er steht ganz hinten beim „Public Viewing“ in der Finca Bar Celona an der Westfalenstraße, mehrere hundert Fans sind gekommen. Die Stimmung ist angespannt, denn Neuer musste schon nach einer Viertelstunde die ersten Paraden absolvieren, und Olli sagt: „Ich fänd’ ja besser, wenn Karius im Tor wär’.“ Der Keeper von Liverpool, der vor Wochen durch zwei böse Patzer den Briten das Champions-League-Finale verhagelte. Olli erklärt: „Ich hab’ mit einem Arbeitskollegen gewettet, dass Mexiko gewinnt und nicht Deutschland.“ Aber warum nur? „Weil die gut sind, die Mexikaner.“
Frustriert in der Pause zum Bierstand
Als er das sagt, fällt das eins zu null. Wer ist schuld im Team? „Alle“, ruft Tim (18) aus Burgaltendorf empört und zieht nervös an seiner Zigarette. „Die Abwehr, das Mittelfeld – die lassen viel zu viel durch.“ Er selbst hat übrigens sechs oder sieben Jahre selber Fußball gespielt, immer vorne, „einmal war ich Torschützenkönig in der D-Jugend.“
Aber was hilft’s? Nichts! Der Schiedsrichter pfeift die erste Halbzeit ab, Tim geht mit seinen Freunden frustriert zum Bierstand.
„Destruktiv und schlecht“
Lange Gesichter auch auf dem „Roten Platz“ in Rüttenscheid. „Ziemlich deprimierend“ – so beschreibt Christian Bockholt, ein Neffe von RWE-Torwartlegende Fred Bockholt, seinen Seelenzustand. Der Kettwiger trägt das 1954er-Nostalgietrikot und sitzt beim Auftaktspiel mit Freunden in der ersten Reihe des Public Viewing. „Destruktiv und schlecht gespielt“, schimpft er, „es fehlen Feuer und Kampf.“ Sein Tipp aufs End-Ergebnis lautet 2:1, deshalb setzt er jetzt auf das Prinzip Hoffnung und zwei schöne Überraschungen in Halbzeit zwo.
Knapp 3000 Zuschauer haben den Weg in die alte Spedition gefunden: mit Abstand das größte Rudelgucken der Stadt. Und für Marketing-Profi Thomas Siepmann, den Veranstalter, deshalb ein Auftakt nach Maß. „Wir sind fast ausverkauft, ich bin mit der Resonanz sehr zufrieden.“ Es ist ein friedliches Fanfest: viele junge Familien, viele Paare und null Aggression. Allein schon die 10 000-Watt-Lautsprecher verbreiten Stadion-Atmosphäre. Zur EM 2016 in Frankreich legte Siepmann („11 Freunde“) in der alten Spedition das erste Public Viewing („Les Halles du football“) auf. „Leider hat’s vor zwei Jahren nur geregnet.“ Jetzt spielt das Wetter mit, nur die Stimmung rutscht in den Keller.
Dirk und Marlene – ein deutsch-mexikanisches Paar
Mittendrin in dem Meer aus Schwarz-Rot-Gold sitzen Dirk aus Frintrop und seine mexikanische Freundin Marlene. Seit Januar betreibt der Essener in der mexikanischen Hauptstadt ein Call-Center. „Ich bin schon zum dritten Mal in Deutschland und aus Liebe hier“, sagt Marlene.
Ihr zu Liebe trägt er das grüne mexikanische Nationaltrikot, dafür hat sie sich die deutschen Farben auf die Wange gelegt. Und war beim Führungstreffer in Jubel ausgebrochen. Beide hoffen auf ein gerechtes zwei zu zwei am Ende – doch es kommt bekanntlich anders.
Die wichtigste Frage stellt eine Frau mit roter Brille
Szenenwechsel: Die Bar „S6“ am Stadtwaldplatz hat auch zum „Public Viewing“ geladen, alle Sitzplätze belegt, doch als am Ende langsam klar wird, dass die Deutschen es nicht mehr schaffen, lässt auch die Aufmerksamkeit nach: Vier Mittfünfziger hinten rechts debattieren beim Weißwein lebhaft über ihre künftige Betriebsrente, und eine sehr wichtige Frage stellt kurz vor Abpfiff eine Frau mit roter Hornbrille ihren Freunden: „Sagt mal, wenn die Deutschen ‘rausfliegen, sind wir dann für Island?“