Essen. . Die Messe Essen ist bis zum 19. Juni Wahllokal für rund 120 000 Deutschtürken aus dem Ruhrgebiet. Essen ist eine Erdogan-Hochburg.

Unter Präsident Erdogan ist die Türkei weit von Europa abgerückt – und Brüssel ebenso von Ankara. Deshalb mutet es kurios an, dass ausgerechnet im Saal Europa der Messe Essen mitentschieden wird, welchen Kurs das Land am Bosporus nehmen wird. Bis zum 19. Juni können mehr als 450 000 wahlberechtigte Türken aus Nordrhein-Westfalen das Parlament und den Präsidenten wählen. Der Saal Europa ist eines von vier Wahllokalen zwischen Rhein und Weser.

„Wir haben gerade Erdogan gewählt“, sagen Osman Kurt (46) und sein Vater Saffat, ein freundlicher älterer Herr, der kaum Deutsch spricht, früher als Eisenflechter gearbeitet hat und die erste Gastarbeitergeneration repräsentiert.

Erdogan, der Tribun mit der Machtfülle eines Diktators, benötigt für seine Wiederwahl auch die wichtigen Stimmen der Auslandstürken. Und in Essen darf er auf besonders große Zustimmung zählen. Denn die Ruhrmetropole ist die Erdogan-Hochburg schlechthin in Deutschland. Beim Referendum vor einem Jahr triumphierte Erdogan in Essen mit 75,9 Prozent Ja-Stimmen.

„Konservativ, religiös und traditionell orientiert“

Haci-Halil Uslucan, Direktor des Zentrums für Türkeistudien, erklärt dieses Phänomen so: „Erdogan genießt im Ruhrgebiet besonders im Milieu der ersten Gastarbeitergeneration starken Rückhalt.“ Menschen, die der Wissenschaftler als „konservativ, religiös und traditionell orientiert“ einstuft. Und nicht selten auch als offenbar weniger gebildet.

So überrascht es kaum, dass die Kurts aus Recklinghausen kein Hehl daraus machen, dass sie die deutsche Politik kaum interessiere. Bei einer Bundestagswahl habe er noch nie ein Kreuz gemacht. Wie denn auch, wenn er nur den türkischen Pass besitze. „Unser Präsident sitzt in Ankara“, stellt Osman Kurt klar.

Ob mit oder ohne Doppelpass: „Die Deutschtürken, besonders die junge Generation, haben das Gefühl, von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt zu werden“, urteilt Professor Uslucan. Er diagnostiziert ein tiefsitzendes Unbehagen, aus dem Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP geschickt Kapital zu schlagen versuche. In einer „stark emotionalisierten Ansprache“, die den Zusammenhalt aller Türken beschwöre, werde um die kostbaren Stimmen der Deutschtürken gebuhlt.

Die Krankenschwester Meliha Karakas aus Dortmund fungiert bei der Wahl als Wahlvorstand. Sie schwärmt von Präsident Erdogan.
Die Krankenschwester Meliha Karakas aus Dortmund fungiert bei der Wahl als Wahlvorstand. Sie schwärmt von Präsident Erdogan. © Kerstin Kokoska

Meliha Karakas aus Dortmund ist 1974 als Zehnjährige nach Deutschland gekommen. In Essen wirkt sie am ersten Wahltag mit als Wahlvorstand. „Erst jetzt unter Erdogan wird die Türkei modernisiert, es herrschen Demokratie und Gerechtigkeit“, sagt die examinierte Krankenschwester. Eine im Laufe der Jahre streng gläubig gewordene Muslimin, die erst seit einer Mekka-Pilgerfahrt vor sechs Jahren als religiöses Zeichen das Kopftuch trägt. Über Menschenrechtsverletzungen und volle Gefängnisse spricht sie nicht.

Vizekonsul weist auf den Fastenmonat Ramadan hin

Im Saal Europa, so groß wie eine Turnhalle, herrscht an diesem Donnerstag drei Stunden nach Öffnung des Wahllokals ein ständiges Kommen und Gehen, Schlangen bilden sich aber nicht. „Es ist ja auch Ramadan, der Fastenmonat“, sagt Vizekonsul Adnan Bekçekaral. Ihre Kreuze machen die Wähler in zwölf Papp-Kabinen und die verschlossenen grünen Umschlage werfen sie in durchsichtige Urnen aus Plexiglas. Das Generalkonsulat rechnet pro Tag mit wenigstens 4500 Wählern. „Ist der Andrang an den Wochenenden besonders groß, stellen wir drei weitere Wahlurnen auf,“ sagt der Diplomat.

Wahlbeobachter schaut genau hin

Der Wahlbeobachter Atalay Karacan aus Essen schaut bei Türkei-Wahl im Saal Europa ganz genau hin.
Der Wahlbeobachter Atalay Karacan aus Essen schaut bei Türkei-Wahl im Saal Europa ganz genau hin. © Kerstin Kokoska

Und geht alles mit rechten Dingen zu, sind Manipulationen ausgeschlossen? Der Essener Atalay Karacan, Informatiker und Student, verheiratet mit einer Französin, schaut ganz genau hin. Der 32-Jährige ist von der bürgerlichen Oppositionspartei IYI als Wahlbeobachter verpflichtet worden. Er passt auf, dass die Urnen und die grünen Briefe fest verschlossen sind. Für Erdogan, gesteht er, habe er an sich wenig übrig. Andererseits sei er ihm dankbar dafür, dass er den Auslandstürken zum Wahlrecht verholfen hat. „Von den meisten deutschen Politikern werden wir nicht ernst genommen oder sogar ignoriert“, fügt er – halb verbittert, halb anklagend – hinzu.

Polit-Experte Haci-Halil Uslucan vom Essener Zentrum für Türkeistudien geht davon aus, dass es im Ruhrgebiet auch bei dieser Türkei-Wahl bei der überdurchschnittlichen Zustimmung für Erdogan bleiben wird. „Für dramatische Veränderungen des Wählerverhaltens gibt’s wenig Gründe.“

Einige sehnen sehr wohl nach einen Machtwechsel in Ankara und ein Ende der Ära Erdogan herbei. Wie etwa Ahmet Atik (37). Der Heizungsmonteur aus Iserlohn, geboren in Dortmund und aufgewachsen in Antalya, hat zum ersten Mal in seinem Leben gewählt: nicht Erdogan, sondern die Opposition. „Ich wünsche mir eine europäisch orientierte Türkei, in der dieselben republikanischen Werte gelten wie hierzulande.“