Essen. . Wolfgang Neukirchner war Verwaltungsrichter und schrieb Schlager für Heino und Paul Kuhn. Das Ruhr Museum zeigt erstmals seine Ruhrgebiets-Fotos.
Wolfgang Neukirchner war der künstlerische Kopf hinter Heino. Tagsüber sprach er Recht in Namen des Volkes. Nach Feierabend schrieb der Verwaltungsrichter Schlager am laufenden Band von „Blau, blau, blau blüht der Enzian“ über „Caramba, Caracho, ein Whiskey“ bis „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Die Stiftung Zollverein ermöglicht wenige Monate nach dem Tod von Wolfgang Neukirchner nun eine doppelte Entdeckung.
Der Jurist aus Bredeney war nicht nur der geheime Hitlieferant von Heino, Ralf Bendix und Paul Kuhn. Seine Fotoserie von 1965 ist auch eine melancholisch-zärtliche Verbeugung vor den Randgebieten des Ruhrgebiets von Gelsenkirchen bis Altenessen, wo Neukirchner seine ersten Kindheitsjahre verbrachte.
Sein Sohn Manuel Neukirchner, Gründungsdirektor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, hat diesen lange unentdeckten Fotoschatz nun gehoben. Ein Fotoband und die Ausstellung „Sie sind so leer, die Straßen“ auf Zeche Zollverein zeigt diese stimmungsvollen Impressionen. Martina Schürmann sprach mit Manuel Neukirchner über Heimat und Heinos Besuche in Bredeney.
Herr Neukirchner, Ihr Vater war Jurist, Komponist, Kabarettist. Hat es Sie überrascht, dass er auch fotografisch in Erscheinung getreten ist?
Neukirchner: Eigentlich hat mich bei meinem Vater gar nichts überrascht, weil er unglaublich vielseitig interessiert war. Und als ich 2015 die große Chargesheimer-Ausstellung im Ruhr Museum gesehen habe, da wusste ich eigentlich genau, dass ihn das anspricht. Trotzdem war ich baff, als mein Vater mir damals erklärte: „Solche Bilder habe ich in der Art auch gemacht.“ Dabei war das eigentlich nur folgerichtig.
Wie meinen Sie das?
Der Ellernplatz, die Bäuminghausstraße, das waren Orte, die wir oft besucht haben, dort ist mein Vater aufgewachsen. Diese Plätze und Straßenzüge hat er mir bei Spaziergängen immer wieder voller Zuneigung nahe gebracht. Für ihn war nicht die Postkartenidylle des Baldeneysees das Ruhrgebiet. Die Randgebiete waren für ihn Heimat.
Die Schau „Sie sind so leer, die Straßen“ bezieht sich auf ein Lied, das Ihr Vater 1957 zusammen mit Paul Kuhn herausgebracht hat.
Die melancholische Ballade haben die beiden 1957 ohne Plattenfirma völlig am Mainstream vorbei produziert. Den Stimmungsgehalt des Songs wollte mein Vater irgendwann in die Bildsprache der Fotografie übertragen. An zwei Wochenenden im Jahr 1965 ist er deshalb mit seiner Retina-Kamera durch die Randbezirke von Essen, Oberhausen, Gelsenkirchen gezogen. Das war für ihn ein Experiment. Damals hat er natürlich nie daran gedacht, dass daraus ein Buch oder gar eine Ausstellung werden könnte.
Heute kann man die Bilder wie eine melancholische Hommage an das „alte“ Ruhrgebiet lesen.
Aber das wollte mein Vater damals gar nicht zeigen. Trotzdem hat er, ohne es zu ahnen, den Symbolgehalt einer zu Ende gehenden Epoche eingefangen. Das ist auch das Glück des fotografischen Autodidakten, dass die Bilder eine Relevanz erreichen, die man anfangs gar nicht beabsichtigt hatte.
Die Fotos zeigen die Randgebiete des Reviers in schönster Verlassenheit und Schwermut. Was hat Ihren Vater dorthin gezogen?
Er hat seine frühe Kindheit in Altenessen bei den Großeltern verbracht, weil die Eltern künstlerisch viel unterwegs waren. Sein Vater war damals 1. Flötist im Essener Orchester, die Mutter eine international gefragte Sopranistin. Erst später ist die Familie gemeinsam nach Bredeney gezogen. Doch für meinen Vater war die Zeit bei den Großeltern prägend. Die Abende in der ungeheizten Wohnküche, mit Rosinenbrot und Vielfruchtmarmelade und den Novemberrevolutions-Geschichten des Großvaters. Und dann ist mein Vater 1942 auch noch vom Bahnhof Altenessen aus zum Kriegsdienst eingezogen worden. Mit dem Ort sind viele Schlüsselmomente seines Lebens verbunden.
Ihr Vater hat im ersten Studentenkabarett der Nachkriegszeit mitgewirkt und Kollegen von Hüsch bis Hildebrandt begeistert. Später hat dieser Quer- und Freiheitsdenker Songs wie „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ geschrieben. Haben Sie das mal als Widerspruch empfunden?
Nach dem Krieg hat ihn vor allem diese absolute Freiheit angetrieben, dass man plötzlich wieder sagen konnte, was man wollte. Diese unglaubliche Unbekümmertheit kann man vermutlich nur empfinden, wenn man auch den Krieg erlebt hat. Dass mein Vater später immer ein bisschen in diese Schlagerecke gestellt worden ist, das empfinde ich gar nicht so. Er hat musikalisch immer viel experimentiert.
Und Heino „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ singen lassen.
Auch das war damals eine ganz neue Richtung – Volkslieder neu und mit viel Drive zu arrangieren. Damals waren die Stones und die Beatles in aller Munde, deutsche Lieder waren eigentlich verpönt. Und dann entdeckten mein Vater und sein Jugendfreund Ralf Bendix diesen semmelblonden Bäckergesellen Heinz Georg Kramm, der gerade mit Freddy-Quinn-Parodien durchs Land zog. Der Name, die dunkle Brille, das Repertoire, die ganze Marke Heino, die mittlerweile auf ein halbes Jahrhundert Bühnenpräsenz verweisen kann und 50 Millionen Tonträger verkauft hat, wurde damals kreiert.
Und das Wohnhaus in Bredeney wurde zu Heinos Hitschmiede.
Genau. Heino gehört für mich zur Familie. Wenn er zu uns nach Hause kam, wurde erst mal Kaffee getrunken. Dann zog man sich ins Haus zurück. Der Arrangeur Erich Becht, Produzent Ralf Bendix und mein Vater als Texter tüftelten an den neuen Songs und Heino sang. Nach dem Abendessen wurden wir Kinder dann schon bettfertig im Bademantel aufs Sofa gesetzt und mussten spontan unser Urteil abgeben.
Die Kreativität Ihres Vaters ist dabei lange im Verborgenen geblieben.
Mein Vater war im Hauptberuf Vorsitzender Richter beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Im Namen des Volkes Recht zu sprechen und gleichzeitig im Schlager-Rampenlicht zu stehen, das hätte sich nicht gut vertragen. Deshalb hat er mit Pseudonymen gearbeitet.
Die Ausstellung auf Zollverein ist auch ein persönliches Andenken an einen Mann mit vielen Talenten.
Mein Vater war keiner, der die große Bühne brauchte, was er getan hat, hat er immer auch für die Familie getan. Paul Kuhn hat später einmal gesagt, er habe das Lied „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ gesungen, um Cadillac fahren zu können. Mein Vater ist in den Familienkombi gestiegen, aber er hat mit uns tolle Urlaube gemacht und uns Kindern unglaublich viel mitgegeben.
>> Informationen zur Ausstellung
„Sie sind so leer, die Straßen.“ Ruhrgebietsfotografien 1965 von Wolfgang Neukirchner. 10. März bis 1. Juli, täglich 10 bis 18 Uhr. Rundeindicker im Portal der Industriekultur, Zeche Zollverein, Kohlenwäsche, Schacht XII, Eintritt 2 €, Besucher unter 18 Jahren frei. Der Katalog ist im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen.