Die neue Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums Essen heißt Galina Borchers – und hat selbst eine Zuwanderer-Geschichte. Mehr im Interview.
Galina Borchers (40) sprach kaum Deutsch, als sie aus Bulgarien nach Deutschland kam. Im Interview erzählt die neue Leiterin des Kommunalen Integrationszentrums in Essen von Sprachlosigkeit, Einsamkeit – und Ankommen. Frau Borchers, Sie haben zuletzt das Kommunale Integrationszentrum im Kreis Soest geleitet. Als Sie dort anfingen, hießen Sie noch Nedelcheva. Was ist Ihre persönliche Integrationsgeschichte?
Ich bin im Jahr 2001 aus Bulgarien nach Deutschland gekommen – und konnte damals kaum ein Wort Deutsch sprechen. Ich hatte in Bulgarien ein Mathe-Gymnasium besucht und Wirtschaft studiert, hier musste ich bei Null anfangen, Deutsch lernen und mich finanzieren, auch durch Putzstellen.
Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, in ein Land zu gehen, dessen Sprache Sie nicht beherrschten?
Ende 1996 erlebte Bulgarien einen verspäteten Umbruch, die bulgarische Revolution. Damals studierte ich im ersten Semester und gehörte zur studentischen Bewegung; wir hatten sehr viele Träume, die sich später leider als Illusionen entpuppen sollten. Darum wollte ich das Land verlassen. Auf Deutschland fiel die Wahl, weil ich zwei Freundinnen hatte, die Deutsch sprachen. Ihnen schloss ich mich an.
„Ich dachte, Deutschland sei das Paradies...“
Das klingt sehr spontan . . .
Ich habe nicht einfach den Koffer gepackt und bin abgereist. Ich hatte mich für ein Studium beworben und die Zulassung für die Uni Münster sowie ein Visum erhalten; damit hatte ich Anspruch auf einen Wohnheimplatz. Anders als die Flüchtlinge, die heute kommen, hatte ich also einen Rahmen und bin nicht auf der Straße gelandet. Allerdings durfte ich erst studieren, sobald ich den Sprachkurs der Uni erfolgreich absolviert hatte.
Sie müssen schnell gelernt haben, wenn Sie hier studieren konnten.
Leider nicht. Ich erlebte zunächst einen Kulturschock: In Bulgarien gilt Deutschland als reiches Land, ein Paradies, das einem alle Möglichkeiten bietet – so dachte ich auch. Tatsächlich war ich anfangs sprachlos – im wahrsten Sinne des Wortes – und furchtbar einsam. Wer nicht kommunizieren kann, findet keine Freunde. Ich litt unter dem Wetter, vermisste die Sonne... Das erste Jahr war hart, und so fiel ich durch den Einstufungstest für den Sprachkurs. Ich blieb dran und habe den Test im zweiten Jahr bestanden, aber es war emotional eine schwierige Zeit. Wenn ich heute mit Migranten spreche, sage ich, dass das starke Heimweh fünf Jahre dauern kann, und man sich erst zu Hause fühlt, wenn man Deutsch spricht, Freundschaften schließt.
„Mit Disziplin und Fleiß findet man hier einen Platz“
Hat Ihre Studienwahl mit diesen Erfahrungen zu tun?
Nein, ich hatte mich schon während meines Studiums in Sofia mit großer Freude im sozialen Bereich engagiert. Darum habe ich an der Fachhochschule Münster Diplom-Sozialarbeit/Sozialpädagogik studiert und später den Master in Sozialmanagement gemacht. Aber für meine teils harten Erfahrungen bin ich dankbar. Ich wollte gern andere ermutigen, weitergeben, dass man mit Disziplin und Fleiß einen Platz in der deutschen Gesellschaft finden kann. Aus diesem Grund ging ich in die Integrationsarbeit.
Sie haben bei der Diakonie gearbeitet, bevor Sie 2009 als Fachkraft für Integration zum Kreis Soest kamen. Nur zwei Jahre später betraute man Sie mit Aufbau und Leitung des neuen Integrationszentrums.
Der Kreis Soest ist ein ländliches Gebiet, es gab da zwar Wohlfahrtsverbände und Vereine, aber keine Strukturen wie in Essen. Der Aufbau des Integrationszentrums war echte Pionierarbeit. Aber die Zeit für das Thema war gekommen, und die Leute waren sehr dankbar, dass ich alle Akteure zusammenbrachte. Ich wage zu behaupten, dass diese Zusammenarbeit gelungen ist.
„Es ist normal, Ängste gegenüber Fremden zu haben“
Das Motto hieß „Zu Hause im Kreis Soest“, das klingt heimelig. Essen nahm zuletzt 20 000 Menschen auf, wie integriert man die?
In Soest habe ich mal eine syrische Familie besucht, die in einem Einfamilienhaus umgeben von lauter Deutschen lebt. Da ist Kennenlernen unausweichlich. Wenn aber so viele Flüchtlinge wie 2015 zu uns kommen, ist es unmöglich, überall solche Bedingungen zu schaffen – noch dazu in einer Großstadt wie Essen. Es war naheliegend, dass die Leute dahin ziehen, wo Wohnraum günstig und verfügbar ist. In der Konsequenz muss wieder der Norden der Stadt unglaublich große Herausforderungen bewältigen. Dabei sind Gebiete, in denen Migranten nur unter sich sind, definitiv nicht hilfreich für die Integration.
In einigen Essener Stadtteilen fühlen sich die Bürger völlig überfordert . . .
. . . wenn man erlebt, dass plötzlich so viele Menschen zuwandern, stellt man sich natürlich die Frage: „Schaffen wir das?“ Diese Sorge ist menschlich und heißt nicht, dass man den Flüchtlingen nicht helfen möchte. Es ist völlig normal, Ängste gegenüber Fremden und Unbekannten zu haben. Wir müssen das ernst nehmen und darüber sprechen. Und wir müssen Begegnungen schaffen, damit sich die Menschen kennenlernen und Ängste abbauen können, etwa in Cafés und Bürgerläden. Nicht jeder engagiert sich ja ehrenamtlich.
„Die Integration der Flüchtlinge hat erst begonnen“
Verstehen Sie, dass auch viele Ehrenamtliche nach der anfänglichen Begeisterung ernüchtert sind?
Bisher ging es um Erstversorgung: Essen, Bett, Unterkunft... Da gab es rasch Erfolgserlebnisse. Wenn ich jemanden dann aber zwei Jahre lang betreue, eine Bindung entsteht, und Erfolge bleiben aus, ist das verletzend und frustrierend. Aus eigener Erfahrung kann ich da nur sagen: Integration braucht Zeit! Supervision oder Schulungen könnten Ehrenamtlichen helfen, emotional mit der Situation klarzukommen und weiter für die Flüchtlinge da zu sein. Denn die Integration hat gerade erst begonnen, es wird noch sehr anstrengend! Jetzt stehen viel kompliziertere Dinge an, bei denen man sich durch ein System mit vielen Anlaufstellen, Behörden und Zuständigkeiten kämpfen muss, das selbst Deutsche überfordert. Hier müssen wir den Ehrenamtlichen helfen, die Probleme zu lösen.
Bisweilen tun sich selbst die Profis von Jobcenter & Co. schwer mit der Qualifizierung und dem Jobeinstieg der Flüchtlinge.
Die Flüchtlinge sind eine heterogene Gruppe: Da gibt es Fachkräfte genauso wie Menschen, die nie zur Schule gegangen sind. Aber man kann auch mit 40 noch eine Sprache lernen und eine Ausbildung machen, um Fuß zu fassen, Arbeit zu finden. Bei einigen meiner Landsleute habe ich erlebt, dass sie das als Zumutung empfanden: Sie hätten ja in ihrer Heimat einen Beruf erlernt. Ihnen muss man erklären, dass es unterschiedliche Standards und Anforderungen gibt.
„Wir dürfen Ingenieure nicht zu Putzkräften machen“
Wie kann es aber sein, dass ein irakischer Ingenieur mangels Jobperspektive eine Dönerbude aufmacht?
Eigentlich sollte man gucken, wo man andocken kann: Was können die Leute, was kann man anerkennen, damit sie nicht von vorn anfangen müssen. Ich habe meine Diplomarbeit über jüdische Kontingent-Flüchtlinge geschrieben, die oft hochqualifiziert waren. Mit etwas Nachsteuern hätten wir fertige Ingenieure gehabt, stattdessen haben wir Putzkräfte aus ihnen gemacht. Das sollte uns eine Mahnung sein. Trotzdem werden wir nicht jedem sofort eine passgenaue Maßnahme anbieten können. Zumal manches nicht auf kommunaler Ebene zu klären ist, sondern Land und Bund am Zug sind.
Und was können Sie vor Ort tun?
Ich bin zu kurz hier, um fertige Lösungen zu präsentieren. Aber bisher gibt es in Essen zwei Strategiekonzepte: Zuerst gab es die Interkulturelle Orientierung, dann – als Reaktion auf die starke Zuwanderung seit 2015 – kam die Integration von Flüchtlingen. Jetzt wollen wir beides bündeln, Maßnahmen und Akteure vernetzen, Ressourcen besser nutzen. Es ist eine Querschnittsaufgabe, die beim Oberbürgermeister angesiedelt ist. Konkret müssen wir in allen Lebensbereichen langsam zur Normalität zurückkehren, das Zusammenleben organisieren. Dazu gehört, dass sich beide Seiten bemühen: Dass niemand Flüchtlinge pauschal aburteilt, weil es eine einzelne Verfehlung gegeben hat. Und dass umgekehrt die Zuwanderer die deutschen Werte respektieren.
„Viele Flüchtlinge fühlen sich hier wie Zeitreisende“
Mancher tut sich schon schwer, die Gleichberechtigung hierzulande anzuerkennen. Wie stellen Sie sicher, dass Frauen Bildungsangebote wahrnehmen?
Praktisch braucht man dazu Kinderbetreuung – und zweitens Aufklärung: Die Leute wachsen in einem ganz anderen System auf, sind zwei Wochen auf der Flucht und landen in einer komplett neuen Welt: Die werden in die Zukunft geschleudert. Wie Zeitreisende im Film sind sie total verwirrt. Wir müssen ihnen Zeit lassen, sich hier zurechtzufinden. Gleichzeitig gilt es natürlich, Gleichberechtigung und Grundgesetz zu verteidigen.
Sie sagen Integration braucht Zeit – wie lange? Eine Generation?
Tja, dann hätte ich es ja noch nicht geschafft [lacht]. Im Ernst: Jeder hat sein individuelles Tempo, jeder muss sich bemühen. Dabei helfen auch positive Beispiele als Motivation: Man kann es schaffen.
„Ich habe definitiv zwei Herzen, zwei Heimatländer“
Wer hat Sie motiviert?
Das war mein Prof! Auch ich hatte ja Begegnungen mit Menschen, die Vorbehalte hatten, dachten, weil ich kein Deutsch konnte, müsse ich dumm sein. Mein Professor, hat mir gezeigt, dass da jemand ist, der an mich glaubt. Er stellte mich als studentische Hilfskraft ein und gab mir die Möglichkeit, zu beweisen, was ich kann – und dass Putzstellen unter meinem Niveau waren. Das war für mich ein Türöffner. Dadurch legte ich auch meine Vorbehalte gegen „die Deutschen“ ab.
Heute sind Sie selbst Deutsche?
Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Einmal im Jahr bin ich in Bulgarien und merke, dass ich ein wenig fremd geworden bin... Aber in mir schlagen definitiv zwei Herzen, ich habe zwei Heimatländer . . .
. . . und bald eine neue Heimatstadt?
Ich bin Fan des Ruhrgebiets, glücklich, dass ich in Essen arbeiten darf, und freue mich auf das Kulturangebot. Aber der Liebe wegen bleibe ich in Dorsten: Da lebe ich mit meinem Mann in seinem Elternhaus.
>>>> WECHSEL AN DER SPITZE DES INTEGRATIONSZENTRUMS
Galina Borchers stammt vom Schwarzen Meer und hat in Sofia Wirtschaft studiert. 2001 kam sie nach Deutschland, studierte an der Fachhochschule Münster Sozialarbeit/Sozialpädagogik und machte einen Master Sozialmanagement. Vor dem Wechsel nach Essen arbeitete sie bei der Diakonie Ruhr Hellweg und im Kreis Soest, wo sie das Integrationszentrum aufbaute und leitete. Sie lebt mit ihrem Mann in Dorsten.
Die Leitung des Kommunalen Integrationszentrums Essen übernimmt sie von Helmuth Schweitzer, der 2017 in den Ruhestand verabschiedet wurde. Schweitzer hatte die örtliche Integrationsarbeit über Jahrzehnte geprägt.