Essen. Lothar Osterfeld war Heimkind in Essen. In den 1980er Jahren zeichnete ihn Ina Seeberg für ein Buch. Nun traf er die Malerin wieder.
Der Herr im Anzug trägt eine gezähmte Mähne, ist höflich und spricht Ruhrpottslang. „Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass der kleine Rotzjunge von damals gute Manieren hat und mal in meinem Wohnzimmer sitzt“, sagt Ina Seeberg. Die Künstlerin hatte 1984 und 1985 eine ganze Reihe von Heranwachsenden in der Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung für ein Buch gezeichnet. Darunter einen, der sich als Gunnar wie ein roter Faden durch ihre Studie „Gruppenkinder und Gespräche“ zieht. Nun hat er den Kontakt wieder aufgenommen. Die beiden sitzen vertraut vereint und Lothar Osterfeld denkt ganz schnörkellos an seine Vergangenheit zurück.
„Ich war ein aggressives Kind. Ich habe gelogen und betrogen, um weiterzukommen“, stellt der Sohn von Wirtsleuten aus Holsterhausen fest. Als er neun war, kam er mit seinem Bruder, den er oft wegen seines Gewichts und seines Sprachfehlers triezte, in das katholische Heim. Da hatte er bereits andere Einrichtungen hinter sich und traf auf eine Erzieherin, die ihm das gab, was ihm seine Familie nicht geben konnte: Zuwendung und Halt. „Mir konnte nichts Besseres passieren. Ich kann nur Gutes darüber sagen. Ich habe Fußball und Tennis gespielt und als einer von zweien Abitur machen können.“
Er bat die Künstlerin: „Malen Sie mir ein paar Muskeln“
Mit 13 lernte er „seine Malerin“ kennen. Er war „voll in der Pubertät“ und wollte natürlich gezeichnet werden. „Malen sie mir mal ein paar Muskeln“, hatte er sie vergeblich gebeten. Heute lächelt er darüber. Zwei Jahre besuchte Ina Seeberg zwei Mal wöchentlich das Heim, um ihre Eindrücke festzuhalten und dem Klischee von Heimkindern entgegenzuwirken. „Es war eine besondere Welt. Viele taten so cool, hatten aber einen schwierigen häuslichen Hintergrund und erfuhren dort zum ersten Mal Liebe“, erklärt Ina Seeberg, die diese Jungs und Mädchen in 59 Porträts verewigte. Über das Zeichnen erfasste sie die Kinderseelen sehr genau. „Sie hat mich erkannt und den Charakter dahinter gezeigt. Das ist eine Begabung“, meint Lothar Osterfeld. Sein mal sehnsuchtsvoller, mal verwegener Blick in jungen Jahren spricht Bände. „In dem Buch stehen Dinge, die ich erst später wahrgenommen habe.“
Heute lebt Lothar Osterfeld in Dortmund, arbeitet in der Versicherungsbranche und scheint es gut getroffen zu haben. Immer wieder sagt er, dass er im Leben bevorzugt worden sei. „Andere sind krank, drogenabhängig oder unter der Brücke gelandet“, weiß der 47-Jährige, bei dem Ina Seeberg Spuren hinterlassen hat. Ihretwegen malt er selbst. Von seinen im Smartphone gespeicherten Porträts ist Ina Seeberg beeindruckt. „Wenn ich der Auslöser sein soll, umso besser“, bemerkt die Künstlerin, die sich mittlerweile mehr mit abstrakten Landschaften und Illustrationen beschäftigt.
„Die Begegnung war für mich ein krönender Abschluss“
In all den Jahren war er der Einzige, der sich bei ihr gemeldet hat. „Ich war zur Messe in meinem alten Kinderheim und habe ihre Zeichnungen im Foyer des Neubaus entdeckt“, berichtet Lothar Osterfeld. Dann schickte er eine Mail. Sie konnte sich sofort an ihn erinnern. Beim letzten Treffen haben sie die Bilder dann gemeinsam angeschaut. „Diese Begegnung ist für mich wie ein krönender Abschluss“, sagt Ina Seeberg und wird einen seiner Sätze wohl nicht vergessen: „Zeichnen ist wie leben – nur ohne Radiergummi.“
>> DIE MALERIN INA SEEBERG UND DIE STIFTUNG
Ina Seeberg wurde in Stralsund geboren. Sie studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Pädagogik in Bonn, Malerei in Nürnberg, Grafik und Illustration an der Folkwangschule. Neben Ausstellungen gab es diverse Buchveröffentlichungen, etwa: „Kinderstation“, „Fatma Gül und ihre Kinder“, „Gruppenkinder und Gespräche“, „Türkische Sprichwörter“.
Die Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung betreut bis heute Kinder und Jugendliche in Kinderheim- und Wohngruppen und setzt so das Werk der Fürstäbtissin fort.