Essen. . Das Grüne-Hauptstadt-Jahr geht auf die Zielgerade. Essener Persönlichkeiten ziehen ihre eigene Bilanz zwischen Zufriedenheit und Ernüchterung.
Das Jahr der Grünen Hauptstadt neigt sich dem Ende zu. Wenige Tage noch, dann gibt Essen den Staffelstab weiter an Nimwegen, die Grüne Hauptstadt 2018 . Es ist also an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Was bleibt in Erinnerung? Was wirkt über das Jahr hinaus? Wir haben Persönlichkeiten um ihre Meinung gebeten.
Theo Grütter, Direktor Ruhrmuseum
Mit der Grünen Hauptstadt wurde eine bisher zu wenig bekannte Seite Essens ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es ist bemerkenswert, wie viele und wie unterschiedliche Grünkonzepte in Essen entwickelt wurden – von den zahlreichen Parks und Grünanlagen bis zur Industrienatur. Dies wurde im Jahr der Grünen Hauptstadt Essen 2017 überregional und sogar international wahrgenommen, hat vor allem aber das Heimatgefühl der Essener Bevölkerung gestärkt.
Die Stadt Essen hat die Ernennung mit einem beeindruckenden Veranstaltungsreigen gerechtfertigt und das Projektbüro ein vielfältiges und überzeugendes Programm zusammengestellt. Die damit verbundenen Eindrücke und Erkenntnisse werden nachhaltig bleiben. Das Ruhrgebiet hat nach der Kulturhauptstadt eindrucksvoll bewiesen, dass es solche Ereignisse würdevoll und zugleich mit großer Freude und Lebendigkeit feiern kann. Und vielleicht ist es ja kein Zufall, dass Essen die einzige Stadt ist, die beide europäischen Titel gewonnen hat. Ein Grund auf unsere Stadt stolz zu sein.
Dieter Küpper, Runder Umwelttisch Essen
Das „Grüne Hauptstadt-Team“ ist mit viel Engagement und großer Kreativität eine Mammutaufgabe angegangen – mit nur einem Jahr Vorlauf mehr als eine halbe Million Bürger, einige hundert Politiker und tausende Verwaltungsmitarbeiter in grünen Themenbereichen zu informieren, zu sensibilisieren und zur Teilnahme zu motivieren.
Dies ist bereits bei der Auftaktveranstaltung in der Gruga in großartiger Weise gelungen. Jedoch sind Schwachpunkte unverkennbar. Der Anteil am motorisierten Individualverkehr ist mit über 50 Prozent besorgniserregend anhaltend hoch. Auch müssen wir uns die Frage stellen, ob alle Teile der Verwaltung und der Kommunalpolitik die Anforderungen und Verpflichtungen verstanden haben, die sich aus dem Titel Grüne Hauptstadt Europas ergeben. Die spärliche Präsenz – repräsentative Veranstaltungen ausgenommen – deuten nicht auf großes Interesse hin.
Christian Tombeil, Indendant des Grillo-Theater
Für mich ist „Essen, Grüne Hauptstadt Europas 2017“ die logische Fortsetzung des Kulturhauptstadtjahres 2010. Wieder einmal hat die Stadt Essen gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage ist, Strukturwandel aktiv zu gestalten.
Vor allem die vielen Stadtteilprojekte und langfristig gedachten Konzepte wie das Radwegenetz werden das Stadtbild verändern und sicherlich attraktiver machen. Es gibt immer noch viel zu tun, aber in einer wahrlich grünen Umgebung ist dann doch manches leichter.“
Reinhard Wiesemann, Kreativ Unternehmer
Die Kulturhauptstadt hat Bilder in unseren Köpfen verankert, die dauerhaft da sind. Ein Meisterwerk, an dem die Grüne Hauptstadt immer wieder gemessen wird. Doch die „Grüne Hauptstadt“ war viel abstrakter, hier ging es oft um Prinzipien, Denkmodelle, Überzeugungen.
Die Organisatoren haben ihr Bestes getan, grüne Ideen ins Stadtbild zu bringen oder Existierendes zu präsentieren, aber sie hatten es ungleich schwerer. Vielleicht hätte man mehr mit existierenden Spannungsverhältnissen spielen, diese thematisieren müssen. Denn nicht alle sind davon überzeugt, dass Forscher das Klima der nächsten 50 Jahre berechnen können, dem Sinn von Elektromobilität, dem Abschalten der Atomkraftwerke, den Schwerpunkten, die zwischen Landschafts- und Menschenschutz gesetzt werden.
Aber das war vermutlich nicht die Stoßrichtung der Grünen Hauptstadt. Hier wurde gezeigt, wie grün Essen schon ist, es wurde Grün in die Fußgängerzone und in den Hauptbahnhof gebracht, es gab zahlreiche Präsentationen grüner Erfolge, der Weberplatz wurde (hoffentlich nachhaltig) gestaltet. Erst in einigen Jahren wird man ein Gefühl dafür haben, welche Wirkungen geblieben sind. Ich bin gespannt.
Dr. Gerald Püchel, Hauptgeschäftsführer der IHK
Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass die Wirtschaft in Essen nicht mehr durch Schlote und Zechen geprägt ist. Und trotzdem scheint sich dieses Klischee noch immer zu halten. Der Titel „Grüne Hauptstadt Europas“ konnte – genau wie schon das Kulturhauptstadtjahr – dazu beitragen, auf die Entwicklung der Stadt aufmerksam zu machen. Das eine oder andere überkommene Bild von Besuchern konnte korrigiert werden.
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) hat gemeinsam mit Partnern gezeigt, welchen Beitrag die Wirtschaft zum grünen Wandel leistet. Wie geht es nun weiter? Mit dem Ende des Jahres der Grünen Hauptstadt sind die Themen noch lange nicht erledigt. Wir werden weiterhin mit Unternehmen an den Chancen der Ressourceneffizienz oder umweltverträglicher Mobilität arbeiten. Denn die Wirtschaft hat spannende Lösungen anzubieten.
Jörg Brinkmann, ADFC
Die Ernennung Essens zur Grünen Hauptstadt Europas wurde unter Essens Radlern mit Euphorie aufgenommen, wurde doch damit die Erwartung geweckt, dass dem Radverkehr endlich die Wertschätzung entgegen gebracht wird, welche ihm angesichts des überfälligen Wandels im Verkehrssektor gebührt.
Erste Verlautbarungen der Stadt klangen dann auch sehr vielversprechend: Man wolle den Radverkehrsanteil von derzeit fünf Prozent auf elf Prozent im Jahr 2020 und sogar auf 25 Prozent bis 2035 steigern. Tatsächlich ist das Tempo beim Ausbau des städtischen Radroutennetzes auch gesteigert worden, allerdings bei weitem nicht in dem erforderlichen Maße. Positiv zu vermerken sind die im Zuge des Grünen Hauptstadtjahrs im Fahrradsektor angesiedelten Projekte und Veranstaltungen. Einige waren als einmalige Events gedacht, so die Ruhrgebietssternfahrt am Tag der Bewegung; andere wurden als langfristige Projekte ausgelegt, so die Fahrradparkhäuschen oder die zum kostenlosen Verleih an Jedermann gedachten Lastenräder.
Wie berechtigt aber Zweifel zum Ende des Grünen Hauptstadtjahrs sind, zeigt der Umgang mit dem zukünftigen Radschnellweg. Dass ausgerechnet im Grünen Hauptstadtjahr das Essener Kernstück im Bereich der Nordcity in Frage gestellt wird, zeigt die geringe Wertschätzung, welche dem Radverkehr in Essen mancherorts nach wie vor entgegenschlägt.
Peter Brdenk, Bund Deutscher Architekten
Nun geht es dem Ende entgegen, mit der Bespielung zur Grünen Hauptstadt Europas 2017. Was war? Was bleibt? Programmgestaltungen derartiger Jubeljahre sind nie einfach, treffen nie den Geschmack aller derer, die man ansprechen will. Sei’s drum. Es bleibt, was die Stadt Essen sich über eine lange Zeit erarbeitet hat und dies nicht erst seit einigen Jahren, sondern in einigen „Grünpunkten“ schon über ein Jahrhundert. Vom Stadtgarten zur Gruga, vom Krupp-Park zur grünen Mitte, sieht man sukzessive Entwicklungen, die auch immer einer lange geltenden Essener Faustformel angeglichen sind: 50 Prozent grün, 50 Prozent bebaut.
Der Weg ist gut und kontinuierlich und muss noch sichtbarer gemacht werden. Wichtiger aber ist: Er ist da! Und dass es Protagonisten gibt, die ihn weiter voran treiben.