Essen. Robin Alexander, Autor des Buches „Die Getriebenen“, und der Wissenschaftler Jörg Bogumil diskutierten über die Flüchtlingskrise und ihre Folgen.
- Im Buch „Die Getriebenen“ hat der Journalist Robin Alexander das Handeln der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise kritisch seziert
- Der Wissenschaftler Jörg Bogumil fordert in einer Studie mehr Effizienz von den Verwaltung, um die Integration zu schaffen
- Beide Autoren diskutierten jüngst teilweise kontrovers bei der Stiftung Mercator
Im Stadtteil Katernberg ist mittlerweile jeder zwanzigste Einwohner syrischer Staatsbürger – zusätzlich zu den vielen anderen hier ansässigen Migranten. Allein diese Zahl zeigt, wie sehr sich Essen in der Folge der Flüchtlingskrise verändert hat und weiter verändern wird, was den Oberbürgermeister jüngst zu seiner „Obergrenzen“-Forderung veranlasste. Zwei Autoren waren am Dienstag Abend bei der Stiftung Mercator an der Huyssenallee zu Gast und lieferten zum Thema aus unterschiedlicher Perspektive Aufklärendes.
Der Berliner Journalist Robin Alexander hat in seinem Bestseller „Die Getriebenen“ fundiert die Hintergründe der dramatischen Monate der Grenzöffnung im Herbst 2015 beschrieben, der Bochumer Uni-Professor Jörg Bogumil eine Studie verfasst, in der er Vereinfachungen von Verwaltungs- und berufsbezogener Vorschriften fordert. Nur so sei die Integration so vieler Flüchtlinge zu schaffen.
In den „Ausnahmezustand“ hinein geschliddert
Laut Alexander ist die Bundesregierung mit Angela Merkel an der Spitze in den „Ausnahmezustand“ der Grenzöffnung förmlich hineingeschliddert und hat erst sehr spät wieder die Kontrolle zurückgewonnen. „Jeder, der an die Grenze kam, durfte rein – das hat so noch kein Staat zugelassen.“ Merkels Neigung, folgenreiches politisches Handeln an den spontanen Reaktionen der Bevölkerung zu orientieren, hätte diesen Kontrollverlust ebenso begünstigt wie die außenpolitischen Verstrickungen zwischen Budapest, Wien und Berlin. Viele Deutsche seien zu Beginn des Flüchtlingsstroms euphorisch aufnahmebereit gewesen – zumindest war dies das Bild, das die Medien in ihrer „Einseitigkeit“ (Alexander) vermittelt hätten. So fehlte es an relevantem Druck auf die Politik.
Was folgte, war die Stunde der Städte, die plötzlich riesige Aufnahmeverpflichtungen meistern mussten. Es gebe viele Gründe, „stolz zu sein auf die deutschen Kommunen“, meinte Alexander. Aus den Reihen der städtischen Praktiker sei dann noch im Herbst 2015 aber auch der erste große Hilferuf an die Bundesregierung gegangen, als 235 Bürgermeister und Landräte ihre Überforderung meldeten und die Frage stellten, wohin die Reise eigentlich gehen solle. „Bei den städtischen Entscheidern kippte die Stimmung viel früher als bei Bürgern und Medien.“ Erst die Kölner Silvesternacht 2015/16 führte dann zur breiten Zäsur.
In den Städten solle mehr entschieden werden - und mehr Geld ankommen
Auch der Verwaltungswissenschaftler Jörg Bogumil sang das Loblied auf die Städte, die eine „Wahnsinnsleistung“ erbracht hätten. Nach der Zeit des Improvisierens habe der deutsche Föderalismus und die Regelungswut einer effizienten Integrationspolitik aber im Wege gestanden – und zwar bis heute. „Vor Ort, in den Städten müsste viel mehr entschieden werden.“ Dort sei man schlicht näher dran an den Problemen, könne besser beurteilen, was hilft. Logisch für Bogumil, dass dort auch mehr Geld ankommen muss.
Bogumils Forderung, berufliche Qualifikationsnachweise nach unten zu nivellieren, um Flüchtlingen die Arbeitsaufnahme zu erleichtern, traf im Publikum auf Widerspruch durch den Arzt und FDP-Ratsherrn Karlgeorg Krüger. Keine Gesellschaft dürfe sich ihre bewährten Standards durch Zuwanderung aus der Hand nehmen lassen, für berufsfachliche Vorschriften gebe es nicht nur im medizinischen Bereich gute Gründe.
Streit über die Frage, wieviel Sozialleistungen Flüchtlingen zustehen soll
Streit mit Robin Alexander löste Bogumils Rat aus, aus Effizienzgründen das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen und allen Flüchtlingen automatisch die leicht höheren Hartz-IV-Sätze zu gönnen. Dies, so Alexander, werde den Sog Richtung Deutschland noch verstärken und unterlaufe die Bemühungen, auf EU-Ebene einheitliche Standards zu schaffen. Die finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge in Deutschland müsse sinken statt noch zu steigen.
So klang am Ende doch noch an, was wegen der unterschiedlichen Ansätze zunächst verborgen blieb: Nicht zuletzt seine Recherche hat Robin Alexander offenbar an der Weisheit eines Staates zweifeln lassen, der seine Bürger einem derartigen Experiment aussetzt. Bogumil hingegen glaubt, dass wir das schon schaffen – bewegliches Verwaltungshandeln vorausgesetzt.